Der blinde Passagier
nahm sogar seine Pfeife aus dem Mund und stand mit einer leichten Verbeugung von seinem Stuhl auf: „Sehr erfreut.“
„Was gibt es Neues?“ fragte Dr. Liesegang. Er hatte für Frau Schimmelpfennig einen Stuhl organisiert, und die beiden saßen jetzt an der Stirnseite des Konferenztisches nebeneinander wie in einem Omnibus.
„Die Spätausgaben bringen es schon“, meinte der ältere weißhaarige Herr, der so aussah wie Einstein. Er blätterte ein paar Zeitungen vor seinem Chefredakteur auf den Tisch. Sie brachten alle das Foto von Peter Schimmelpfennigs Wintermantel.
In diesem Augenblick steckte Fräulein Bertelsmann ihren hübschen Kopf durch die Tür: „Das Gespräch aus Rio.“
„Stellen Sie sofort durch“, sagte Dr. Liesegang. Er nahm den Hörer ab und bediente gleichzeitig den kleinen Hebel für die Konferenzschaltung. „Hallo“, rief er und nahm schnell einen Zug aus seiner Zigarre. „Hallo, ist dort jemand?“
„Hier Miller, Hotel Excelsior in Rio“, meldete sich eine Stimme. Sie hörte sich an wie aus einer leeren Konservenbüchse. „Ich kam leider erst vor einer Stunde vom Strand zurück.“
„Seit unserem gestrigen Gespräch ist unser blinder Passagier plötzlich verschwunden“, rief Dr. Liesegang ins Telefon. „Wir haben Funkfotos von seinem Mantel bekommen, den man im Hotel gefunden hat. Sie waren nach Ihrer Erzählung der letzte, der ihn gesehen und gesprochen hat. Wissen Sie etwas Neues?“ Frau Schimmelpfennig starrte ganz, gespannt auf den Lautsprecher unter der runden elektrischen Uhr, und die Lokalredakteurin war bereit, jedes Wort mitzuschreiben.
„Leider gibt es nichts Neues“, ließ sich Mister Miller hören. „Und was bis zu dem Augenblick passiert ist, als sein Wintermantel gefunden wurde, habe ich Ihnen ja schon gestern erzählt. Seitdem haben wir von Peter nichts mehr gesehen und auch nichts mehr gehört. Wir kamen in das Zimmer zurück, wo er sich versteckt hielt, und er war weg. Das ist alles.“
„Haben Sie inzwischen irgendeinen neuen Verdacht, eine Vermutung?“ fragte Dr. Liesegang laut. „Ich meine, wo der Junge sein könnte?“
„Vielleicht hören Sie dazu Jimmy. Er steht neben mir und hat so seine eigenen Ideen. Übrigens ist auch Sergio bei uns im Zimmer, der Hotelboy, von dem ich Ihnen auch erzählte.“
„Grüßen Sie ihn“, rief Dr. Liesegang und legte seine Zigarre auf den Rand des Aschenbechers.
„He, Jimmy, was hast du dir überlegt?“
„Hallo, Boß“, grüßte eine neue Stimme aus dem Lautsprecher. Sie kratzte ein wenig und hörte sich an, als wollte sie jeden Augenblick umkippen. „Peter ist ganz bestimmt nicht gekidnappt worden, und es ist ihm auch nichts passiert. Hier schreiben die Zeitungen heute, daß der Wintermantel, den man in der Hotelgarderobe gefunden hat, auf einen Unfall oder vielleicht sogar ein Verbrechen schließen läßt. Das ist kompletter Quatsch, und die Presse bringt das auch bloß, weil es ja nicht interessant wäre, wenn sich die ganze Sache als harmlos aufklärt.“
„Weiter, Jimmy, das ist sehr interessant, was du da sagst“, rief Dr. Liesegang. Frau Schimmelpfennig rührte sich überhaupt nicht mehr.
„Peter war im Zimmer von Sergio, und dieses Zimmer war von innen abgeschlossen.“ Jimmy sprach jetzt ein wenig langsamer und betonte jedes Wort. „Das Schloß ist nicht beschädigt. Das bedeutet, daß Peter irgend jemanden freiwillig hereingelassen hat oder daß er von sich aus und ganz allein weggegangen ist. Gewalt war jedenfalls nicht im Spiel. Bestimmt hätte Peter um sich geschlagen, wenn man ihn bedroht oder zu etwas gezwungen hätte. Aber im Zimmer war davon nicht die geringste Spur zu finden. Ich bin in jeder Ecke herumgekrochen. Alles ist piekfein und in bester Ordnung.“
„Und der Wintermantel?“ fragte Dr. Liesegang.
„Ehrlich gesagt, ich habe keine richtige Erklärung dafür. Peter hat ihn bestimmt nicht in die Hotelhalle gelegt. Wenn Peter noch einmal im Hotel gewesen wäre, hätte er uns angerufen oder eine Nachricht hinterlassen. Das ist so sicher, wie Sie nur wollen. Entschuldigung.“ Jimmy hatte am anderen Ende der Leitung einen Hustenanfall.
„Bis er sich wieder erholt hat“, meldete sich jetzt wieder Mister Miller, „möchte ich noch sagen, daß natürlich die Angebote der Agentur auf den Jungen nicht ohne Eindruck geblieben sind. Zwei Dinge können zusammengekommen sein, wenn ich es richtig sehe. Er wollte einerseits nicht sang- und klanglos wieder nach Hause abgeschoben
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