Der blinde Passagier
schlafen.“
„In zwei Minuten liege ich im Bett“, versprach Peter Schimmelpfennig.
„Schlaf also gut!“ meinte Rodrigo und machte die Tür wieder zu.
„30. Dezember“, schrieb Peter Schimmelpfennig noch ganz oben auf eine neue Seite. Für den Ort ließ er genügend Platz frei. Er wußte ja noch nicht, wo er morgen sein würde.
„Ich werde um sechs Uhr geweckt“, schrieb Peter Schimmelpfennig.
Anschließend klappte er den Block mit dem Briefpapier wieder zu und legte ihn in seinen Koffer. Er putzte sich noch die Zähne und knipste das Licht aus.
Peter Schimmelpfennig hat sich
in Luft aufgelöst
Auf dem Tisch der Schimmelpfennigschen Wohnung lag ein Funkfoto aus Rio de Janeiro. Es zeigte einen dunkelblauen Wintermantel, der über einem Kleiderbügel in irgendeiner Garderobe hing.
„Dabei sah gestern alles noch so günstig aus“, sagte Chefredakteur Dr. Liesegang gerade. Er stand am Fenster und blickte zur Straße hinunter. Die Stadt war völlig zugeschneit. Autos und Straßenbahnen krochen langsam wie Schildkröten.
Frau Schimmelpfennig saß am Tisch, und die Großmutter saß neben ihr. Beide starrten auf die Fotografie mit dem Wintermantel, den sie nur zu gut kannten. Sie hatten ihn zusammen mit Peter beim letzten Winterschlußverkauf gekauft. Bei Peek und Cloppenburg für zweiundfünfzig Mark.
„Wir sollen uns keine Sorgen machen, und dem Jungen gehe es ganz ausgezeichnet, sagte dieser Mister Miller wörtlich.“ Dr. Liesegang schaute immer noch in den Schnee hinaus. „Aber das habe ich Ihnen ja alles schon erzählt.“
Frau Schimmelpfennig schnüffelte und kramte nach einem Taschentuch. „Ich versteh’ das nicht“, meinte sie, „ich versteh’ das einfach nicht. Er kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben.”
„Gibt es in Brasilien eigentlich noch richtige Wilde?“ wollte die Großmutter plötzlich wissen. „Indianer und so ‘n Zeug?“
„Jetzt schlägt Ihre Phantasie aber Purzelbäume, gnädige Frau“, sagte der Chefredakteur kurz angebunden.
„Ich weiß. Sie geben mir die Schuld, weil ich den anderen Presseleuten auch Fotos gegeben habe“, meinte die Großmutter. Sie setzte sich kerzengerade und blickte gekränkt zum Weihnachtsbaum hinüber.
„Es ist nicht zu leugnen“, erwiderte Dr. Liesegang ein wenig wie ein Staatsanwalt, „daß dadurch die Jagd auf den Jungen erst richtig losgehen konnte.“ Er drehte sich um, und im gleichen Augenblick tat ihm auch schon wieder leid, was er gerade gesagt hatte. „Entschuldigen Sie, aber ich wollte Ihnen natürlich keinen Vorwurf machen.“
Die Großmutter rührte sich nicht. Erst nach einer Weile sagte sie: „Dieser Sang Ping ist an allem schuld. Wenn der das Geld nicht geklaut hätte...“
„Oder wenn ich das Geld nicht so leichtsinnig im Eisschrank versteckt hätte“, unterbrach Frau Schimmelpfennig.
„Vielleicht hätte ich nicht den Vorschlag machen sollen, daß Peter nach Frankfurt fliegt“, fügte die Großmutter hinzu, und es klang ziemlich kleinlaut.
„Es war bestimmt auch ein Fehler von mir“, gab jetzt der Chefredakteur des Abendblattes zu bedenken, „daß ich dem Jungen damals nach der Tennisstunde den Floh ins Ohr setzte, daß Zeitungen eine richtige Sensation besonders gut bezahlen.“
„Es ist ja nicht auszuhalten“, protestierte die Großmutter plötzlich und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Jetzt lassen wir schon die Köpfe hängen, als sei der Junge unter einen Elefanten gekommen. Dabei führt er uns alle vielleicht nur an der Nase herum.“
„Sie sprechen mir aus der Seele“, pflichtete Dr. Liesegang bei, holte tief Luft und war auf einmal wie umgekrempelt. „Gestatten Sie, daß ich meinen Mantel ausziehe und mir eine Zigarre anstecke?“
„Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten oder sonst irgend etwas?“ fragte Frau Schimmelpfennig.
„Danke, wirklich nicht.“ Der Chefredakteur holte sich eine lange, schwarze Brasil aus dem Lederetui. „Ohne Zigarre fühle ich mich wie eine Lokomotive ohne Kohlen.“
„Lokomotiven fahren heutzutage elektrisch“, sagte die Großmutter nachtragend und blickte wieder in den Christbaum.
„Richtig!“ Dr. Liesegang lachte, und dann paffte er die erste weiße Rauchwolke ins Zimmer. „Vielleicht wissen wir heute abend schon eine ganze Menge mehr. Ich versuche nämlich schon seit heute morgen, diesen Mister Miller oder seinen Sohn im Hotel Excelsior in Rio ans Telefon zu bekommen. Irgendwann muß er sich ja melden.“
Es klingelte an der
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