Der Blumenkrieg
von einem von uns einen Finger haben, bevor du uns weitergehen läßt?« Er warf rasch einen Blick hinter sich und war sich fast sicher, daß er in der dunklen Ferne jemanden auf den Gleisen herankommen sah.
»Nein, nein. Je einen Finger von euch beiden. Das ist ein sehr großzügiges Angebot, verstehst du? Früher hätte ich einfach einen von euch gefressen. Mindestens einen.«
Theo glotzte die widerliche Bestie an, die in ihrem bleichen Wulstpanzer vor ihm hockte wie eine gigantische Sumokröte. Der Gedanke zuckte ihm durch den Kopf, einfach an dem Troll vorbeizurennen, aber irgendwie war ihm klar, daß das nicht so einfach gehen würde. Zudem hatte er den Verdacht, daß das Handeln sich wahrscheinlich etwas unfreundlicher gestaltete, wenn er geschnappt worden war.
Das ist verrückt! Das ist ein böser Traum …! Er schaute sich um. Irgend etwas kam tatsächlich dort hinten auf sie zu, ein wandelndes Stück Dunkelheit. Es war noch ein ferner Punkt, wurde aber jeden Moment größer.
»Na gut«, sagte er schließlich. Ihm war plötzlich kalt am ganzen Leib und flau im Magen. Mit Verzögern war nichts gewonnen. »Du kannst die Finger von mir haben.« Er streckte die linke Hand aus, und trotz seiner jäh emporschnellenden Angst versuchte er noch einen Witz zu machen. »Wenigstens bin ich ein Sänger, kein Gitarrenspieler.«
»Er kann von uns beiden einen haben«, widersprach Wuschel.
»Du sei still! Ohne mich wärst du gar nicht in diese Lage geraten.«
Eine mächtige, höckrige Pranke mit einer Haut wie feuchtes Gummi schloß sich wie eine Schraubzwinge um seine Hand samt Unterarm, so daß nur noch die Finger herausschauten. »Ach, du kannst singen, ja? Falls du je wieder in die Gegend kommst, mußt du bei mir vorbeischauen. Ich liebe Musik.« Das ungeheure Maul klaffte auf, und Theo starrte ebenso angewidert wie gebannt auf das faulige Gebiß. Wie konnte er sich hinterher waschen, wie die Wunden säubern und verbinden? Mit was für scheußlichen Krankheiten würde er angesteckt werden? Er konnte nicht hinschauen. Er klappte Mittel- und Zeigefinger ab, um sie vor diesem ekligen Schlund in Sicherheit zu bringen, kniff fest die Augen zu und konzentrierte sich darauf, sich nicht zu übergeben, während er wartete, wartete … wartete …
Er machte die Augen wieder auf. Das riesige Gesicht war ganz nahe an seiner Hand, doch das Horrorfilmmaul war geschlossen und die Augen genauso. Das Scheusal schnupperte, oder zumindest zuckten seine beiden winzigen Nasenlöcher.
»Was ist das für ein Geruch?« ertönte der Rumpelbaß. »Wie von einer Kuh, aber … aber anders.«
Theo brauchte einen Moment. »Meine Lederjacke?«
»Ich hab noch nie so was gerochen.« Der Troll blähte die Nüstern und atmete tief ein. »Kuhhaut! Aber ganz anders, als ich sie kenne.«
»Sie stammt aus der Menschenwelt«, sagte Wuschel. »Diese Haut kommt von einer Kuh aus der Menschenwelt. Sehr selten.«
»Sie riecht … wunderbar. Da läuft einem mordsmäßig das Wasser im Mund zusammen.« Der Fettkloß musterte Theo, behielt aber die Hand fest im Griff. Die Äuglein verengten sich listig. »Weißt du was? Deine Finger sind ja auf ihre Art ganz nett … aber ich wäre bereit, es im Austausch für dieses Stück Haut mit einem bewenden zu lassen.«
»Keine Finger«, erklärte Wuschel. »Du bekommst die Kuhhaut, aber mehr nicht.«
Aus einem absurden Impuls heraus hätte Theo beinahe widersprochen – seine geliebte Jacke! Er hatte sie schon seit Jahren. Dann dachte er daran, wie lange er seine Finger schon hatte.
»Hmm …« Der Troll runzelte eine teigartige Stirn, dann ließ er Theos Hand los. »Na schön. Abgemacht.«
Theo schlüpfte hastig aus der Jacke, zog aber noch das Notizbuch seines Großonkels heraus, bevor er sie aushändigte. »Sie gehört dir.«
»Schön«, sagte das Scheusal mit seiner tiefen, triefigen Stimme. »Ich werde sie nicht auf einmal verzehren. Ich werde sie genießen. Danke. Hör mal, wenn du jemals an etwas Ähnliches kommst, denk dran: Ich handele gern …«
Aber Theo und Wuschel liefen bereits über die Brücke davon, so schnell ihre müden Beine sie trugen. Erst als sie die Brücke und ihren Hüter weit hinter sich gelassen hatten, merkte Theo, daß er Rainfarns Telefonvögelchen in seiner Jackentasche vergessen hatte. Er hatte natürlich nicht vor, deswegen noch einmal umzukehren. Was ihn anging, konnte dieses zweibeinige Ekelpaket gerne auf Rainfarns Rechnung endlose Ferngespräche führen oder sich eine
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