Der Blumenkrieg
über die halbe Lichtung, wo er anhielt und sich so abrupt von einem Strich in der Landschaft in eine klar umrissene Gestalt verwandelte, daß Theo beinahe einen Überraschungslaut ausgestoßen hätte.
Es war ein weißer Hirsch, ein großes männliches Tier mit einem ausladenden Geweih, dessen Stangen wie zwei blattlose Bäume aus Elfenbein aussahen. Er starrte genau auf die Stelle, wo Theo sich versteckt hatte. Obwohl Theo den Atem anhielt und die Muskeln anspannte, schienen die dunklen, feuchten Augen ihn sofort zu erspähen.
Wunderschön, wunderschön … war alles, was er denken konnte, während der Hirsch regungslos in einem schrägen Sonnenschaft stand wie eine Statue aus brennendem Phosphor. Er blinzelte und sprang dann so flink und mühelos zwischen den Bäumen am anderen Ende der Lichtung davon, daß Theo im ersten Moment gar nicht begriff, was geschehen war.
Er machte den Mund auf und setzte an, etwas Bewunderndes über die Vision zu stammeln, die ihm gerade zuteil geworden war, da summten Apfelgriebs’ Flügel neben seinem Ohr. Sie stieß ihn mit dem Fuß an, diesmal jedoch etwas sanfter.
»Pssst!« I hr Flüstern war so nahe, daß er sogar den zarten Lufthauch ihres Atems im Ohr zu spüren meinte. Zu seiner Verwunderung fing sie zu singen an. Ihre Stimme war kratzig, aber melodisch. Er verstand die Worte nicht, doch die einfache Melodie war so berückend, daß er zunächst die ringsumher anschwellenden Geräusche gar nicht bemerkte, die jedoch niemals lauter wurden als ein Regengestippel auf harter Erde.
Die Reiter stürmten auf die Lichtung.
Abermals verschlug es ihm die Sprache, doch was er empfand, war mehr als die schlichte Ehrfurcht, die ihn beim Anblick des Hirsches ergriffen hatte. Es waren annähernd zwei Dutzend männliche und weibliche Gestalten in Trachten, die aus den verschiedensten Zeiten und Kulturen zu kommen schienen, modernen wie altertümlichen; selbst die Farben der Stoffe wechselten in einem fort, schillernd wie Perlmutt, wie Sonnenschein auf der Oberfläche eines fließenden Baches. Die Gesichter der Reiter waren edel und stolz und eigentümlich alterslos – jedes einzelne Mitglied der Jagdpartie hätte in menschlichen Jahren gerechnet zwanzig oder vierzig sein können, und selbst die Spanne war zu eng. Er fand es so schwer, sie anzuschauen, wie vorher bei seiner Ankunft die Umgebung, in die er geraten war. Sein Hirn suchte angestrengt nach Maßen, Kategorien, Möglichkeiten, diese Wesen als normale Menschen aufzufassen, doch es wollte ihm nicht gelingen: Sie brachten seine gewohnten Kriterien, andere zu beurteilen, so nachhaltig durcheinander, wie der Hirsch ihn durch die schlichte Tatsache seiner pfeilschnellen Herrlichkeit in einen erstarrten Erdkloß verwandelt hatte.
Selbst ihre Pferde waren fremdartig, auch wenn er nicht angeben konnte, inwiefern sie anders waren – sie hatten vier Beine, Mähnen, Augen, blitzende Zähne. Doch das alles machte sie nicht zu Pferden, wenigstens nicht zu Pferden, wie er sie kannte, sowenig wie der Schmuck, die kunstvoll gekräuselten und frisierten Haare und die leise gewechselten Worte aus diesen erschreckend schönen Reitern Menschen machten.
Die Jäger verweilten nur wenige Augenblicke auf der Lichtung, umritten die Stelle, wo der Hirsch gestanden hatte, und blickten hingerissen auf den Boden, als wäre dort etwas geschrieben, das sie noch nie gesehen hatten. Einer aus dem Jagdtrupp, ein hochgewachsener Mann mit langen goldenen Haaren, dessen Kleidung an eine moderne Reitertracht erinnerte (nur daß eine solche Tracht niemals aus Millionen glitzernder Schuppen gefertigt wäre) und der eine Art Gewehr mit einem glänzenden silbernen Lauf und einem knochenweißen Schaft in der Hand hielt, stellte sich in den Steigbügeln auf und zog sein Pferd in die Richtung herum, in die der Hirsch geflohen war. Dann preschte er los und die anderen hinterher, schnell wie ein Peitschenschlag, aber so leise, daß Theo sie schon nicht mehr hörte, als die letzten gerade zwischen den nächsten Bäumen hindurchgeritten waren.
»Das war Fürst Rittersporn«, sagte Apfelgriebs nach längerem Schweigen. »Der in dem Eidechsenanzug. Hab ihn schon öfter im Spiegel gesehen. In echt sieht er besser aus, muß ich zugeben, sofern man für die Sorte was übrig hat.«
Theo war sich nicht sicher, was für eine Sorte das sein sollte, aber im Augenblick war er sich nicht einmal seines eigenen Namens ganz sicher. »Das waren … Elfen?«
Apfelgriebs schnaubte und
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