Der Blumenkrieg
sie das nicht tun sollten, wollte ihm nicht einfallen. Eine Siedlung war es definitiv: Sie kamen an einem Park vorbei, wo eine Schar Elfenkinder hinter einem kleinen goldenen Gegenstand herjagte, der weder wie ein Ball noch wie ein Tier aussah, aber eindeutig hüpfte; ganz in der Nähe ließen andere Kinder bunte Drachen steigen, die keine Schnüre hatten, soweit man erkennen konnte. Er beobachtete, wie ein Zug singender jüngerer Kinder in vielen verschiedenen Größen und Formen, mit Flügeln und ohne, von einer honigmelonengroßen fliegenden Blase, die in allen Regenbogenfarben schimmerte, die Straße entlanggeführt und offenbar zur Schule oder von der Schule nach Hause gebracht wurde. Er hätte sehr gern gehört, was sie sangen, doch bevor er herausgefunden hatte, wie man das Fenster hinunterließ, war das Auto schon an der kleinen Parade vorbeigefahren.
Noch verwirrender fand er, daß in vielen Hauseinfahrten blitzblanke Automobile standen, kleiner und weniger prunkvoll als der Wagen, in dem er saß, ansonsten jedoch nicht sehr verschieden: Ganz offensichtlich waren »Kutschen« nicht nur etwas für die Reichen. Überhaupt schien die frühindustrielle Elfenzivilisation, die in der Beschreibung seines Großonkels wie das Produkt seiner eigenen Phantasie geklungen hatte, seinerzeit nicht nur der Wahrheit entsprochen zu haben, sondern auch noch beträchtlich vorangeschritten zu sein, seit Eamonn Dowd seine Aufzeichnungen verfaßt hatte.
Aber es ist noch keine dreißig Jahre her, daß er das geschrieben hat, dachte Theo, und damals lebten sie noch voll in der Zeit der Gaslaternen. Er starrte eine ganz moderne Ampel an, wie man sie ähnlich auch an einer irdischen Straßenkreuzung hätte finden können, wenn man einmal von den Farben der Lichter absah, orange und lavendelblau statt rot und grün – und von der Tatsache, daß sie unbefestigt in der Luft schwebte. Hat sich hier wirklich alles so schnell verändert? Oder vergeht die Zeit anders als in unserer Welt? Rainfarns Bemerkungen über »Schlupf« und »Reibung« fielen ihm ein. Was hatte es damit auf sich?
Er wurde in seinen Grübeleien unterbrochen, als die von Bäumen gesäumte Allee, der sie gefolgt waren, eine langgezogene Kurve beschrieb und in eine breitere Straße mündete, auf der sie alsbald an einen belebten Marktplatz kamen. Theo betrachtete die hohen, schmalen Gebäude, die um den Platz herum standen wie Kerzen am Rand einer Geburtstagstorte. Einige waren gut dreißig Meter hoch und stellten eine befremdliche Kreuzung eines schnörkeligen, beinahe gotischen Baustils mit ungewöhnlichen Grundformen und modernen Baustoffen dar. Das große, gedrungene Gebäude unmittelbar vor ihnen, in dem er den Bahnhof vermutete, sah ein bißchen wie ein wahlloses Durcheinander von Türmen und Türmchen aus, doch es war von einer imposanten Kuppel gekrönt, die sich an einem kleinen Kapitol nicht schlecht gemacht hätte, auch wenn sie mehr wie ein gewölbtes Spinnennetz als wie eine geschlossene Halbkugel wirkte und deutlich keinen Schutz vor den Elementen bot.
An einem Regentag wie heute muß es da drin verdammt ungemütlich sein, dachte er und mußte dabei eine heftige Anwandlung von Heimweh unterdrücken. Mal wieder ein glücklich gewählter Zeitpunkt.
Am überraschendsten fand er, daß sie eben erst die stille Landstraße verlassen hatten und schon in einem verkehrsreichen Ortskern waren, auch wenn die Ortschaft selbst nicht sehr groß war. Zum erstenmal sah er viele der sogenannten »Kutschen« auf einem Haufen. Fast alle waren kleiner als die Luxuslimousine, in der er fuhr, und das faszinierende Spektrum der Formen und Farben reichte von Fahrzeugen, die beinahe wie Volkswagen Käfer aussahen, bis hin zu asymmetrischen Kreationen, bei denen Theo vorn und hinten nur unterscheiden konnte, wenn er sah, in welche Richtung der Fahrer blickte. Es waren auch Vehikel unterwegs, die wie Fahrräder und Motorräder aussahen, und Kinder fuhren Tretbretter und Roller, auch wenn man diese Namen recht frei definieren mußte, wenn man sie anwenden wollte: Er sah wenigstens einen »Roller«, der anstelle von Rädern kupferrote Eidechsenbeine hatte. Doch wenn die Straße um den Marktplatz herum auch von absonderlichen Gefährten wimmelte, so wimmelte sie doch noch mehr von Fußgängern, Hunderten und Aberhunderten.
»So viele Leute!« rief er aus.
»Ja, nicht wahr?« Rufinus kicherte. »Es muß dir sehr groß und laut vorkommen, nehme ich an.«
Theo rümpfte die Nase.
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