Der Blutfluch: Roman (German Edition)
dem Boden verharren.
Heinrich hatte sie loslassen müssen, hatte für einen Augenblick ebenfalls die Orientierung verloren.
»Zum Henker, wo bist du, Mädchen?«
Konnte er sie nicht sehen? Aliza realisierte blitzschnell die rabenschwarze Finsternis. Welche Gelegenheit zur Flucht! Die einzige. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie hatte keine Ahnung, in welche Richtung sie sich wenden musste. Mit den Handflächen ertastete sie um sich herum zerdrücktes Gras und kleine Steine. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie in einen kleinen Seitenweg zwischen zwei Zelten gestürzt sein musste.
Mit der Lautlosigkeit einer Katze richtete sie sich auf. Das Bein schmerzte, aber sie konnte laufen.
Der fluchende Löwe verriet ihr die Richtung, in die sie sich keinesfalls wenden durfte. Sie huschte geduckt in die entgegengesetzte und konnte sich nach kurzer Zeit schon wieder an der breitesten Lagergasse orientieren.
Wohin?
Irgendwohin!
Schritte und Rufe kamen wieder näher. Verzweifelt drehte sie sich einmal um die eigene Achse, rannte um ihr Leben, bis sich rechts von ihr gegen den Nachthimmel die Umrisse großer Zelte abzeichneten. Vor einem Eingang standen Feuerkörbe, deren Glut die Umgebung notdürftig erhellte. Bewaffnete Kriegsknechte warfen dort ihre Schatten gegen die Wände.
Aliza duckte sich blitzschnell zur Seite zwischen zwei Zelte und breitete die Arme aus, um ihren Weg zu ertasten. Sie streifte Zeltwände, Stangen, Lederschnüre, bis sie plötzlich ins Nichts fasste. Ein Spalt zwischen zwei Zeltwänden. Offensichtlich ein Sturmschaden, der nicht bemerkt worden war.
Ihr Entschluss wurde von der Ausweglosigkeit diktiert. Wer immer hier wohnte, er war ihre einzige Möglichkeit, die Verfolger abzuschütteln.
Sie zwängte sich durch den Spalt, berührte Vorhänge aus knisterndem Stoff.
Gleißendes Licht schlug ihr entgegen. In hohen Leuchtern brannten Kerzen im Übermaß. Verblüfft, aber nicht erschrocken, sah die Dame am Lesepult auf.
»Oh! Eine Überraschung! Euch habe ich ehrlich gesagt nicht erwartet«, sagte sie freundlich mit französischem Akzent.
Ohne nachzudenken, antwortete Aliza auf Französisch.
»Verzeiht mein Eindringen, aber ich wusste keinen anderen Rat. Ich brauche dringend Hilfe.«
Vor dem Zelt wurde es laut. Heinrichs herrische Stimme tönte unverkennbar. Problemlos konnte man verstehen, dass er das Kommando führte und nach ihr suchte.
Alles lag in der Hand der Unbekannten, die sie immer noch stumm musterte. Aliza glaubte Zeichen der Anteilnahme in ihren Augen zu erkennen.
»Schnell, hier hinter den Vorhang, und rührt Euch dort nicht von der Stelle.«
Aliza hastete in das Versteck und bemerkte im Dämmerschein, dass es lediglich einem reich verzierten Nachtgeschirr als Stellplatz diente. Wohin war sie geraten? Was geschah, wenn die Wachen das Zelt durchsuchten? Sie versuchte aus den Geräuschen klug zu werden, aber mehr als ein unverständliches Gemurmel konnte sie nicht hören.
Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis der Vorhang sich hob und ihre Retterin sie anlächelte.
»Du kannst herauskommen und mir erzählen, warum dich Heinrich der Löwe sucht wie eine Nadel im Heuhaufen. Komm nur, niemand wird uns stören. Diese Nachtstunden gehören mir leider ganz allein.«
Aliza fasste Zutrauen, dass sie nicht verraten werden würde, und Mut zu einem Gespräch.
»Wen habt Ihr an meiner Stelle erwartet?«, erinnerte sie sich an die ersten Worte.
»Den Kaiser, aber es ist schon zu spät. Heute kommt er nicht mehr, das Fest hat zu lange gedauert. Wir haben Zeit. Wer bist du? Woher kommst du? Du sprichst das Französische wie die Menschen in meiner Heimat.«
Die Mosaiksteine fügten sich zum Bild. Wieso hatte Aliza sie nicht auf den ersten Blick erkannt? Weil die Braut von Würzburg und die Lesende im Hausmantel kaum Ähnlichkeit besaßen? In ihrer Panik war es ihr nicht in den Sinn gekommen, genauer hinzusehen.
Aliza sank mit zitternden Knien zu Boden.
»Ihr seid die Kaiserin.«
»Nein, Kaiserin bin ich erst, wenn Seine Heiligkeit mich krönt. Bis dahin bin ich Beatrix, Königin des Deutschen Reiches und Gemahlin des Kaisers. Steh auf und setz dich. Willst du mir nicht endlich deinen Namen verraten?«
»Aliza.«
»Aliza und weiter?«
»Nur Aliza, Majestät. Angenommene Tochter von Leena, der Tamarafrau. Im Burgundischen und den umliegenden Ländern nennt man uns Ägypter, obwohl wir gar nicht aus Ägypten stammen. Wir sind fahrendes Volk und verdienen unser Brot auf Märkten und Festen.
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