Der Blutfluch: Roman (German Edition)
Pferd kommen?«
»Indem du einen Trittstein verwendest oder dir von einem Reitknecht in den Sattel helfen lässt.«
»Das würde kein Tamara dulden. Männer reiten, Frauen gehen zu Fuß oder sitzen im Wagen, wenn wir von Ort zu Ort ziehen. Sie müssen nach den Kindern sehen, die Ziegen und Hühner hüten, am Wegrand nach Beeren, Kräutern und essbaren Pflanzen Ausschau halten. Da wir nirgendwo lange bleiben, um zu säen und zu ernten, sind wir auf die Feld-und Waldfrüchte angewiesen, die wir unterwegs finden.«
Alizas Erzählungen fesselten Beatrix in ihrer Fremdartigkeit. Nie hatte sie sich je Sorgen darum machen müssen, woher das Essen auf ihrem Teller kam oder wie es den Hühnern ging, die für sie Eier legten.
»Und wie haltet ihr es mit dem Fischen und dem Jagen?«, fragte sie im Gedenken an die vollen Reusen der Klosterteiche und das erlegte Wild aus den Wäldern ihres Onkels.
»Es ist lebensgefährlich für unsereinen. Wer beim Wildern erwischt wird, kann nicht mit Gnade rechnen. Entweder wird er an Ort und Stelle an den nächsten Baum geknüpft oder vor die Obrigkeit geschleppt. Egal ob ein Burgherr, Magistrat oder Abt Gericht hält, das Urteil ist immer das gleiche: Der Wilderer wird erst ausgepeitscht, dann aufgehängt.«
»Das ist schlimm, aber dem Gesetz muss natürlich Genüge getan werden«, entgegnete Beatrix. »Es würde im Chaos enden, nähme sich jeder einfach, was er will. Immerhin macht das Recht keinen Unterschied. Alle werden gleich behandelt im Reich des Kaisers.«
»Wenn der Hunger einem den Verstand raubt, die Kinder vor Schwäche weinen, macht einen auch die Gerechtigkeit nicht satt«, verweigerte sich Aliza dem oberflächlichen Trost.
Bedrückt schwieg Beatrix. Vom Fasten im Kloster kannte sie den Hunger, doch der hatte mit Askese und innerer Einkehr zu tun, nichts mit dem der Armut. Wie konnte man diesen Menschen helfen?
»Würdet ihr bauen, wenn der Kaiser euch Land zur Verfügung stellte?«, kam es ihr in den Sinn. »Das Reich ist groß und besonders im Osten nur dünn besiedelt. Ich weiß, dass Friedrich daran liegt, das zu ändern.«
Aliza schüttelte den Kopf. »Man hat die Tamara gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben. Sie lag im Gebiet, das der große Alexander weit hinter Babylon erobert hat. Nach ihm zerrissen Machtkämpfe und Brudermorde das Land. Mahmud von Ghazni plünderte es in zahllosen Kriegszügen aus. Die Überlebenden wurden in alle Winde zerstreut. Jeder Stamm sucht seitdem seinen eigenen Weg, getrieben von einer Ruhelosigkeit, die uns mittlerweile ins Blut übergegangen ist. Ich fürchte, es entspricht der Wesensart der Tamara, durchs Land zu ziehen. Wenn nicht gerade Hunger droht und der Winter vor der Tür steht, ist es ein freies Leben. Es liegt uns nicht, den Nacken vor Fürsten zu beugen. Wir folgen dem gewählten Stammesführer und respektieren das Wort der weisen Frau, die jede Sippe berät. Bei uns ist das meine Großmutter Rupa.«
Dass das nicht dem entsprach, was der Kaiser von Siedlern erwartete, lag auf der Hand. Beatrix wechselte das Thema.
»Erzähl mir von deiner Großmutter.«
»Eigentlich ist sie …« Aliza brach ab, und begann neu. »Die Tamara glauben, dass die weise Frau übernatürliche Kräfte besitzt. Sie steht dem Ältestenrat vor, der alle wichtigen Entscheidungen fällt. Ihr Wort hat dabei Gewicht.«
»Auch für die Männer?«
Schierer Unglauben ließ Beatrix so laut werden, dass die Damen um sie herum neugierig aufsahen. Das unverständliche französische Geplauder erregte ohnehin Missbilligung. Clementia hatte sich sogar zurückgezogen, was Beatrix nicht übelnahm. Es war unterhaltsamer mit Aliza als mit ihr.
»Sie steht natürlich nicht über den Männern. Aber wenn es um wirklich wichtige Dinge, um Leben und Tod geht, dann legen sie Wert darauf, dass die weise Frau sich mit den Ahnen bespricht und die Karten befragt, was die Zukunft bringt.«
»Die Zukunft liegt in Gottes Hand«, widersprach Beatrix. »Alles andere ist Aberglauben und Jahrmarkts-Hokuspokus. Du glaubst doch nicht etwa daran?«
»Die Tamara glauben an die uralte Weisheit der Stämme. Sie denken, dass der Mensch zur Welt kommt, weil er hier eine Aufgabe zu erfüllen hat. Alles, was er erlebt, ist vom Allmächtigen vorherbestimmt. Es gibt keinen Zufall, nur das Walten des Schicksals.«
Beatrix bedachte sich kurz, bevor sie fragte: »Hast du deine Großmutter jemals zu deinem eigenen Schicksal befragt, Aliza?«
»Aber nein. Man belästigt eine
Phuri
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