Der Blutfluch: Roman (German Edition)
über Stein, bis die Knechte innehielten und sie so überraschend freigaben, dass sie fast in die Knie sank.
Ein Riegel kratzte über Eisen, schwer knirschte die Tür des Verlieses in den Angeln. Im Fackellicht konnte das Dunkel hinter der Schwelle ebenso gut ein Abgrund sein. Aliza schluckte trocken. Sie wagte keinen Schritt.
Der zweite Hieb in ihren Rücken traf sie so unerwartet wie der Schmerz an ihrer Hand. Sie schrie auf und stürzte ins Dunkel. Als sie unwillkürlich die Hände ausstreckte, um den Sturz abzufangen, wurde ihr klar, dass einer der Männer ihre Fesseln durchtrennt und sie dabei verletzt hatte. Blut rann ihr über die Handgelenke.
»Idiot«, fluchte der andere. »Sie versaut das ganze Zeug.«
»Mit kaltem Wasser kann man’s auswaschen. Mach schon, Mädchen. Zieh dich aus.«
Ausziehen? Sie musste die Männer falsch verstanden haben.
»Hörst du schlecht, Schätzchen? Ausziehen. Sollen wir dir helfen? Du wärst nicht das erste Frauenzimmer, das unsere Dienste erfährt.«
»Ihr wollt mich …?«
»Keine Angst.«
Die Beschwichtigung bewirkte das Gegenteil. Aliza starrte ratlos auf das Bündel aus dem Korb, das zu ihren Füßen landete.
»Dein Kerkerhemd. Mehr brauchst du nicht. Die Kleider gehören uns nach Recht und Gesetz. Wir verkaufen das Zeug und teilen den Erlös. Bei dir lohnt es sich wenigstens. Zier dich nicht. Runter mit dem Zeug.«
Der Knecht leckte sich die wulstigen Lippen. Der andere kommentierte gaffend und geifernd jedes Kleidungsstück, das Aliza ablegte. Sie konnte ihnen den Rücken zuwenden, aber nicht die Ohren verschließen. Mit fliegenden Händen wechselte sie zuletzt ihr Unterkleid. Der kurze ärmellose Kittel bedeckte knapp die Scham.
»Gebt mir doch wenigstens ein richtiges Hemd«, flehte sie inständig, aber keiner der Männer reagierte. Sie sammelten die Kleidungsstücke ein und verließen die Zelle. Krachend fiel die Tür hinter ihnen zu, dann folgte das Kratzen des Riegels. Dunkelheit, Stille.
Aliza sank kraftlos auf die Knie. In ihrer Verzweiflung merkte sie anfangs kaum, wie die Zeit verging. Dann wurden, unmerklich und langsam, aus dem einzigen Elendsgefühl, das sie erfüllte, einzelne, voneinander scharf abgegrenzte Gefühle.
Die Kälte ertrug sie am wenigsten.
Innerhalb von wenigen Monaten hatte sie sich daran gewöhnt, nicht mehr frieren zu müssen. Das Kerkerhemd kratzte auf der Haut, bot aber keinerlei wärmenden Schutz.
Die Luft war abgestanden und faulig, jeder Atemzug wurde zur Qual.
Hunger und Durst befielen sie. Wann hatte sie zuletzt etwas gegessen? Es musste vor ihrer Auseinandersetzung mit Sizma gewesen sein. Die Wiederbegegnung mit ihr hatte ihr den Appetit verschlagen.
Irgendwann würde sie sich auch erleichtern müssen. Wo? Sie unterdrückte den Drang.
Hör auf, dich zu bedauern. Beweg dich.
Sie raffte sich auf und versuchte mit ausgestreckten Armen, sich durch die Finsternis des quadratischen Steinkäfigs zu tasten. Als sie einsehen musste, dass es tatsächlich weder eine Pritsche noch eine Strohschütte gab, weder Abfluss noch Eimer, weder Wasserkrug noch ein Essgeschirr, nur Steine und Dunkelheit, überfielen sie Mutlosigkeit und Verzweiflung von neuem.
Mit dem Rücken an der Wand rutschte sie zu Boden und zog die Beine eng an den Körper. Im Nu wurde ihr Kittel feucht, dennoch blieb sie sitzen. Den Kopf auf die verschränkten Arme über den Knien gelegt, glitt sie erschöpft in einen Dämmerzustand zwischen Schlafen und Wachen.
Ängste, Träume und Erinnerungen entführten sie aus der Wirklichkeit. Sie sah sich als Kind vor Tibos Schlägen fliehen, stritt sich mit Sizma um Tand und Spielzeug. Sie hielt die sterbende Leena in den Armen, erinnerte sich ihrer letzten Worte:
»Adeliza … deine Mutter. Sie war die Tochter eines Magistrats aus Besançon. Ihr Onkel hieß Eléazar Cornet …«
Sie lauschte Miloshs Fidel und tanzte für einen Ritter mit goldenen Augen. Doch als sie in seine ausgebreiteten Arme laufen wollte, zeigte er das Gesicht Bertholds.
Rupert von Urach
Villa Lutra, 8. Januar 1157
E s würde Wolf vermutlich nahegehen, wenn er von Sizmas Schicksal erführe. Er hat ja wohl richtig einen Narren an der kleinen Hure gefressen.«
Mit dem Dolch den Schmutz unter den Nägeln herauskratzend, gab Kuno von Vohburg den letzten Hofklatsch preis. Immer wenn Rupert auf der Bank ein Stück zur Seite rückte, rückte er nach. Warum hatte er sich an diesem Morgen ausgerechnet neben ihn setzen müssen? Die Schilderungen seiner
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