Der Blutkelch
schmunzelte wohlwollend. »Mein Sohn Cunán mag nicht die nötigen Eigenschaften haben, um als Stammesfürstdie Fir Maige Féne zu führen, aber er hat sechs Jahre lang die Schule der Barden besucht und mit dem Grad eines
Cli
abgeschlossen, kennt sich in der geheimnisvollen Sprache der Dichter aus, weiß ohne Fehl und Tadel die vorgeschriebene Zahl von Gedichten vorzutragen und kann euch achtzig aus der Vorzeit überlieferte Geschichten auswendig erzählen.«
»Ein Sohn, auf den du stolz sein kannst«, sagte Fidelma. Da ging auch schon die Tür auf, und Cunán kam mit einer kleinen Schriftrolle in der Hand zurück.
»Das hier hat mir vor einigen Jahren Bruder Donnchad geschickt, und da könnt ihr ganz deutlich sehen, worauf ich euch vorhin aufmerksam gemacht habe«, erklärte er eifrig.
Fidelma griff nach der Rolle und betrachtete sie interessiert. Cunán hatte recht. Sie fand genau die Eigenart in der Gestaltung der Buchstaben wieder, auf die er sie hingewiesen hatte. Sie konnte nicht umhin, den Anfang des Schreibens zu lesen.
»Donnchad, ergebener Diener und Jünger von Jesus Christus, an Cunán, den Schreiber. Mögen dir durch die Weisheit Gottes und Jesu, unseres Herrn, Gnade und Frieden die Fülle vergönnt sein.«
»Du musst ihn gut gekannt haben«, bemerkte sie.
»Nur durch unseren Briefwechsel. Unser Bibliothekar kannte ihn besser. Aber er hatte mich gebeten, etliche Texte, die wir in unserem Bestand hatten, für ihn abzuschreiben.«
»Und das war wann?«
»Ach, lange bevor er auf Pilgerfahrt ins Heilige Land ging.«
»Kannst du dich noch erinnern, was für Texte das waren?«
»Einige Briefe vom Apostel Paulus, wenn ich nicht irre.«
»Keine Texte, die sich gegen den Glauben richteten?«, fragte Eadulf ein wenig enttäuscht.
Cunán schüttelte den Kopf, sah ihn aber aufmerksam an. Er verfügte über eine rasche Auffassungsgabe.
»Glaubst du, es könnte einen Zusammenhang zwischen den Manuskripten, in die er hier Einsicht nahm, seinem Tod und dem Überfall auf die Bibliothek geben?«
»Bücher, in denen es um Dinge und Menschen im Hinblick auf Glaubensfragen geht, können durchaus der Auslöser für so schreckliche Vorfälle sein«, meinte sein Vater erbost. »Denk doch bloß mal daran, was wir uns alles von Bruder Lugna, diesem jungen Emporkömmling, bieten lassen müssen.«
»Das erklärt aber noch lange nicht, warum die Uí Liatháin über unsere Bibliothek oder den Frachtkahn herfallen, der mit den Büchern nach Ard Mór unterwegs war«, entgegnete Cunán.
»Da hast du vollkommen recht, Cunán«, stellte Fidelma fest. »Ich würde gern mit den Männern sprechen, die Opfer des Überfalls auf dem Frachtkahn wurden, und auch mit dem Mann, der den Frachtkahn dann gefunden hat.«
»Das ist kein Problem«, erwiderte Cumscrad und erhob sich. »Gehen wir und suchen Muirgíol.«
Der Name bedeutete so viel wie »Meeresstärke«, und Muirgíol machte ihm alle Ehre. Man sah ihm an, dass er von Berufs wegen mit dem Meer und den Flüssen zu tun hatte. Er war ein untersetzter Mann mit sandfarbenem Haar, wassergrünen Augen und einem von Wind und Wetter gegerbten Gesicht. Wo immer er stand, hatte er die Beine gespreizt, als wäre er auf Deck eines Schiffes und müsste das Gleichgewicht halten. Sie fanden ihn an Bord eines der großen Flusskähne, mit denen auf dem Großen Fluss Waren transportiert wurden. Er war mit dem Ausbessern von Tauwerk beschäftigt.
Als er Cumscrad begrüßte, wies er mit einer Kopfbewegung zu dem immer noch schwelenden Bibliotheksgebäude.
»Eine schlimme Sache. So bösartig haben es die Uí Liatháin noch nie getrieben.«
Cumscrad ging auf seine Bemerkung nicht ein, sondern stellte Fidelma vor.
»Das ist Lady Fidelma, die Schwester von König Colgú. Sie möchte sich anhören, welche Klage wir zu führen haben.«
Muirgíol schien nicht sonderlich beeindruckt, er stand weder auf, noch ließ er sich bei seiner Arbeit stören.
»Da bist du genau richtig gekommen. Kannst dich von ihrem Teufelswerk selbst überzeugen.«
»Im Augenblick interessiert mich mehr der Überfall auf deinen Kahn«, erwiderte Fidelma und kam Gormán zuvor, den die mangelnde Höflichkeit des Kahnführers gegenüber der Schwester des Königs empörte.
»Es war, wie wir es unserem Stammesführer Cumscrad berichtet haben. Unweit von Lios Mór sahen wir einen Mann am Südufer liegen. Er schien in Not zu sein, wir wollten ihm helfen und hielten auf das Ufer zu. Aber das Ganze war nur eine Finte. Ohne jede
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