Der Blutkristall
abgesehen. Sie hätte zu gerne gewusst, was die beiden in der Vergangenheit verbunden hatte. Doch wie so vieles musste auch diese Frage vorerst ungeklärt bleiben.
Es gab drängendere Probleme. «Und was jetzt?» Sie sah unentschlossen von Morgan zum Eisenkorb. Wenn sie den Kerl schon nicht beißen durfte, sollte man das inzwischen zusammengesunkene Feuer vielleicht neu entfachen, um ihm die Zunge zu lösen. Bevor sie diesen Vorschlag machen konnte, packte Morgan ihren Oberarm und zerrte sie durch den gesamten Raum. Als er gegen die Tür ihres Schlafzimmers trat, die mit einem lauten Krachen aufschlug, regte sich schließlich ihr Widerstandsgeist. «Hey, lass mich los! Bist du noch ganz sauber?» Sie hielt sich im Türrahmen fest. Auf keinen Fall ließ sich eine Causantín so behandeln. Der Protest half nicht, Morgan gab ihr einen Stoß, und sie flog im hohen Bogen auf das schmale Bett. Blitzschnell drehte sie sich um, bereit einen Angriff abzuwehren, der jedoch nicht kam. «Hat der Dieb uns eben etwa ernsthaft Viel Spaß! gewünscht?», versuchte sie die Situation aufzulockern.
Der erhoffte Erfolg blieb aus. Morgan schien sie nicht einmal zu hören. Er schloss die Tür und ging mit langen Schritten auf und ab. Dabei vermied er jeden Blickkontakt und fuhr sich immer wieder durch sein ohnehin schon strubbeliges Haar, bis es in alle Himmelsrichtungen abstand. Sie beobachtete jede seiner Bewegungen, immer bereit sich zur Wehr zu setzen, sollte dies erforderlich sein. Schließlich blieb er stehen. «Was hast du dir dabei gedacht, den Idioten da draußen selbst befreien zu wollen?», schnauzte er sie an. «Hast du eigentlich eine Ahnung, mit welchen Mächten du dich anlegst?»
Aus Erfahrung wusste sie, dass man tobende Männer besser ausreden ließ. In dieser Stimmung waren sie vernünftigen Argumenten ohnehin nicht zugänglich. Morgan nahm seine Wanderung wieder auf. Jetzt, da sie annehmen durfte, dass er nicht mehr gewalttätig werden würde, nutzte sie die Gelegenheit, ihn genauer anzusehen. Dies war also der Mann, dem sie noch vor Kurzem bereitwillig mehr als nur ein paar heiße Küsse erlaubt hatte. Er mochte nichts für sie sein, und ihre Familie würde durchdrehen, wenn sie jemanden wie Morgan als ihren neuen Freund vorstellte. Ein erfreulicher Gedanke, der ihre Stimmung sofort aufhellte. Zugegeben, gerade eben hatte sie eine Verbindung noch nicht einmal in Betracht gezogen. Und das tat sie auch jetzt nicht. Aber sie fand plötzlich den Gedanken an eine Liaison mit Morgan sehr erregend. Besonders, wenn seine Stimmung so stürmisch war wie augenblicklich, war er unwiderstehlich. Mit Mühe verkniff sie sich ein Lächeln. Der in Frage kommende Kandidat schien nämlich momentan nicht zu Scherzen aufgelegt. Aber er war dermaßen sexy, dass sie ihm sogar mögliche Grobheiten nachsah. Sein raubtierhafter Gang, die absolute Präsenz, alles an ihm schien sie herauszufordern. Er war nicht kultiviert, kein Gentleman. Auch wenn er gelegentlich aristokratisches Flair verströmen mochte, war dies doch eher der Charme eines ruppigen Landadligen als die geschmeidige Eleganz eines Salonlöwen wie Sebastian. Wenn die beiden Vampire wirklich einmal enge Freunde gewesen sein sollten, dann wäre dieser Gegensatz gewiss für mehr als nur eine Lady unwiderstehlich gewesen. Morgans Stimme, dunkel, melodisch und mit der Spur eines seltsamen Akzents, reichte bereits aus, eine Frau zu umgarnen. Von den bernsteinfarbenen Augen ganz zu schweigen, die so trügerisch eine nicht vorhandene Sanftheit vorzutäuschen verstanden. Oh nein, dieser Vampir – einst sterblich, jetzt erbitterter Gegner des Vergänglichen – hatte nicht ohne Grund Jahrhunderte überlebt. Er war ein Kämpfer, wild und ungezähmt. Mit anderen Worten: Morgan besaß die idealen Voraussetzungen für eine heiße Affäre, deren Ausgang niemand vorhersagen konnte. Zur Hölle mit meinen guten Vorsätzen! Sollte er tatsächlich herausfinden, wer sie war und dies gegen sie verwenden, wäre das ein Fehler, denn er schnell mit seinem Leben bezahlen würde. Sie alle konnten auf die ein oder andere Art den Kopf verlieren. Entgegen der landläufigen Meinung galt speziell für Vampire die Warnung: «Nichts ist für die Ewigkeit.» Vivianne dachte aber nicht an den Tod, sondern an die Erregung, die der Tanz auf dem Vulkan ihr bringen würde. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen und sie leckte sich nervös über die Lippen.
«Hörst du mir überhaupt zu?»
Nein. «Natürlich», sie
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