Der Blutrichter
und Durchsetzungsvermögen zählten.
Sie beschloss, vorsichtig und wachsam zu sein. Um ein wenig Zeit zu gewinnen, blickte sie an ihm vorbei aufs Meer hinaus. Die besiegten Männer hatten sich schon ein gutes Stück entfernt. Sie waren der lebende Beweis dafür, dass Störtebeker seine Gegner nicht massakrierte und ertränkte, sondern dass er sie entkommen ließ. Oder waren sie nur die Glücklichen, die den Kampf überlebt hatten, während andere längst tot im Wasser trieben?
»Es ist nicht gut, die Wunden mit schmutzigen Tüchern zu verbinden«, erklärte Greetje und löste sich von diesen Gedanken, um sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. »Damit macht man alles schlimmer. Ich brauche saubere Tücher und abgekochtes Wasser.«
|321| Er ließ sie los. »Was soll das denn bewirken? Wie sollten Tücher und Wasser helfen?«
»Das kann ich Euch nicht beantworten«, gab sie offen zu. »Mein Vater und ich haben beobachtet, dass sich Wunden weniger oft entzünden und dass es seltener Wundbrand gibt, wenn man saubere Tücher und abgekochtes Wasser verwendet. Warum das so ist, weiß noch nicht einmal die Kirche. Aber es gibt einen Zusammenhang.« Sie blickte ihn furchtlos an. Jetzt bewegte sie sich auf einem Gebiet, auf dem sie sich sicher fühlte. »Was spricht dagegen, es wenigstens zu versuchen?«
»Gar nichts. Ihr sollt alles haben. Und beeilt Euch. Die Männer verbluten mir sonst.«
Damit hatten die Ereignisse eine vollkommen unerwartete Wende genommen. Greetje war so erleichtert, dass sie fast zu weinen begann. Doch die ihr gestellte Aufgabe verlangte ihre ganze Aufmerksamkeit und ihren kompromisslosen Einsatz. Voller Elan ging sie an die Arbeit, und dabei merkte sie sehr schnell, dass sie sich mehr vorgenommen hatte, als sie bewältigen konnte.
Wenngleich sie keine Ärztin war, wusste sie, was zu tun war, denn sie hatte ihrem Vater häufig assistiert und auf diese Weise viel gelernt. So schreckliche Wunden wie hier hatte sie allerdings noch nicht gesehen. Aber sie tat, was sie für richtig hielt, und betete im Stillen, dass sie die Verletzten gut behandelte.
Das Geschoss aus der Kanone hatte die schlimmsten Verletzungen verursacht. Es war in die Reling eingeschlagen und hatte diese buchstäblich zerfetzt. Holzsplitter aller erdenklichen Größen, einige fingerlang, andere klein und dünn wie Nähnadeln, gezackt und mit scharfen Spitzen waren mit furchtbarer Geschwindigkeit durch die Luft geflogen und hatten sich in die Körper der Männer gebohrt. Die Splitter mussten entfernt und die Wunden |322| gereinigt werden. Dazu war der rothaarige Mann nicht in der Lage. Also machte Greetje sich zu schaffen und ließ sich von ihm reichen, was sie benötigte. Er fügte sich, erkennbar froh darüber, dass sie ihm die Verantwortung abnahm.
Greetje arbeitete schnell und doch sorgfältig und vergaß dabei vollkommen, was um sie herum geschah, bis eine Böe die Schnigge beinahe umwarf und wolkenbruchartiger Regen einsetzte.
Während die Verwundeten von den anderen Freibeutern unter Deck getragen wurden, ging sie zu ihrer Kabine zurück, stellte die zerbrochene Tür auf, um wenigstens ein wenig geschützt zu sein, und wechselte die Kleider. Dann eilte sie sofort wieder zu ihren Patienten. Nicht allen konnte sie helfen. Einige Männer starben ihr unter den Händen, weil die Verletzungen zu schwer waren und weil sie zu viel Blut verloren hatten.
Das Schiff schwankte stark in der aufgewühlten See, so dass ihre Arbeit zusätzlich erschwert wurde. Unter Deck war es dunkel, und niemand wagte eine Laterne anzuzünden. Gar zu leicht hätte es Feuer geben können, das die ganze Schnigge in Brand gesetzt hätte.
Als endlich alle Verletzten versorgt waren, war Greetje so erschöpft, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Sie ging in ihre Kabine zurück, ließ sich in die Koje sinken und schlief fast augenblicklich ein.
Sie wachte auf, als es an der Kabinentür klopfte. Verschlafen meldete sie sich.
»Du sollst zu Störtebeker kommen«, antwortete eine heisere Stimme. »Los. Er wartet auf dich.«
»Ich bin müde«, klagte sie. Erleichtert nahm sie wahr, dass das Schiff nur noch leicht schwankte. Sie hörte, wie sich der Wind im Segel fing und wie die Schnigge in ihrem Holz knarrte. Rhythmisches Rauschen zeigte ihr |323| an, dass sich die »Möwe« nach wie vor auf offener See befand und Fahrt machte.
»Du kannst es dir aussuchen. Entweder gehst du freiwillig, oder ich hole dich und bringe dich zu ihm. Was ist
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