Der Blutrichter
es versuchen. Und wenn er dabei sein Leben ließ.
Die Dunkelheit kam schneller, als er erwartet hatte. Die tiefschwarzen Wolken wälzten sich heran, und der Regen nahm zu. Die Männer zogen sich in die Häuser zurück, und er konnte sich ihnen unbemerkt nähern. Er rannte los, suchte immer wieder Deckung hinter Büschen und Weidenbäumen. Er beschloss, zuerst einen Blick auf das Schlachtfeld zu werfen. Er hoffte, dort eine Waffe zu finden, mit der er mehr anfangen konnte als mit dem Dolch, der in seinem Gürtel steckte.
Der Regen wurde stärker und beschränkte seine Sicht |92| auf wenige Schritte. Das Wasser in den Pfützen stieg. Kaum noch zu erkennen war in dem sumpfigen Gelände, wohin man seinen Fuß setzten durfte und wohin nicht. Hinrik sah das metallene Schimmern der Rüstungen, die schon fast vom Wasser bedeckt waren. Als er darauf zugehen wollte, sank er augenblicklich bis an die Knie ein. Erschrocken zog er sich zurück, um nicht im Morast steckenzubleiben.
Plötzlich aber blieb er wie vom Schlag getroffen stehen. Nur wenige Schritte von ihm entfernt ragte neben den Wurzeln einer Weide das bleiche Antlitz Christians aus dem Wasser. Die Stirn war blutverschmiert, und das Haar schwamm auf der Wasserfläche. Es umgab den Kopf wie ein Kranz roter Algen. Stieg das Wasser noch ein wenig an, würde es dem Ritter in den Mund laufen.
Christian war nicht tot! Seine Lippen bewegten sich, und in seinem Blick lag eine stumme Bitte. Der Ritter lag auf dem Rücken, tief im moorigen Boden versunken. Mit der linken Hand hielt er sich an der Wurzel der Weide fest.
Hinrik schob sich vorsichtig weiter, bis er einen Fuß auf festen Boden zwischen den Wurzeln des Baumes setzen konnte. Er hob den Kopf des Ritters mit der einen Hand an, während er mit der zweiten versuchte, ihn aus dem Sumpf zu ziehen. Schnell stellte er fest, dass ihm die nötige Kraft fehlte.
Um ihm die Hoffnung nicht zu nehmen, beugte sich Hinrik über ihn: »Haltet durch. Ich bin gleich wieder da.«
»Beeil dich«, röchelte der Ritter. »Es steht nicht gut um mich.«
»Ich hole Euch raus. Ganz sicher«, versprach der Knappe. »Einen Freund lasse ich nicht im Stich.«
Christian lächelte schwach. Er schloss die Augen und |93| presste die Lippen entschlossen zusammen. Sein eiserner Wille hatte ihn überleben lassen, obwohl sein Ende gekommen schien. Nun kehrte die Hoffnung zurück, und neue Kräfte durchströmten seinen Körper.
Hinrik rannte so schnell er konnte durch den Regen den Hang zum Geestrücken hinauf, wo sich das Packpferd befand. Er nahm ihm alle Lasten ab, bis auf ein Seil, schwang sich auf seinen Rücken und trieb es zum Galopp an. Mittlerweile war es noch dunkler geworden, und nach wie vor stürzte der Regen herab, als wollte er das ganze Land ertränken. Der weiche Boden machte es dem Pferd schwer, voranzukommen, andererseits dämpfte er den Hufschlag. Wasser spritzte unter den gewaltigen Hufen auf, doch dieses Geräusch war auf dem Hof nicht zu hören. Es ging im Rauschen des Regens unter.
Hinrik ließ sich nicht aufhalten. Mit zusammengekniffenen Augen spähte er zum Gehöft hinüber, jederzeit bereit anzugreifen, falls sich jemand blicken ließe. Er erreichte die Warft, ritt an ihr entlang, glitt schließlich aus dem Sattel und führte das Pferd so nah wie möglich zu Christian heran. Auf allen vieren kroch er zu dem Ritter hin und führte das Seil unter seinem Rücken und seinen Armen hindurch. Er sprach dem Verletzten Trost zu und verknotete das Seil über seiner Schulter, so dass es sich nicht lösen, ihn aber auch nicht strangulieren konnte. Dann kehrte er zu dem Pferd zurück, nahm es am Zügel und ließ es behutsam ziehen. Das Seil straffte sich. Christian stöhnte vor Schmerz. Vergeblich versuchte er zu helfen. Er steckte in dem Sumpf fest.
Hinrik trieb das Pferd stärker an. Anders war der Ritter nicht zu retten. Er musste weitere Verletzungen in Kauf nehmen. Sonst würde Christian im Sumpf versinken und sterben.
|94| »Los, du alte Mähre!«, schrie Hinrik das Pferd an und hieb ihm die flache Hand auf die Schulter. »Los – zieh endlich!«
Christian verdrehte die Augen und verlor das Bewusstsein. Für einen kurzen Moment geriet sein Mund unter Wasser, dann endlich bewegte sich sein Körper. Langsam, quälend langsam wurde er aus dem zähen Schlamm herausgezogen. Sein Kopf sank zur Seite. Hinrik ließ das Pferd ziehen, bis es festen Boden erreicht hatte. Dann erst eilte er zu Christian, löste das Seil und schüttelte
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