Der Bordeaux-Betrug - Der Bordeaux-Betrug - The Bordeaux Betrayal
Windspiel, als ich eintrat. Tagsüber saß Thelma wie festgenagelt vor dem Fernseher und sah Seifenopern, sofern sie keine Kundschaft hatte. Doch so früh am Morgen galt ihre ungeteilte Aufmerksamkeit noch den Boulevardzeitungen, die sie neben der Registrierkasse auf dem Ladentisch ausgebreitet hatte. Bis sie mich erspähte. Ihr Lächeln ließ mich an Katzen und Kanarienvögel denken.
In diesem Gemischtwarenladen war die Zeit vor ein paar Jahrzehnten stehen geblieben, und seitdem hatte der Rest der Welt ruhig an ihm vorbeitreiben dürfen. Keine elektronische Kasse, keine Strichkodierung, kein Sprühnebel, der Früchte und Gemüse befeuchtete. Thelma passte perfekt in das altmodische Ambiente. Während der Arbeit kleidete sie sich mit einem vamphaften Flair, der halb Auntie Mame, halb Roxie Hart entsprach.
Sie klatschte in die Hände wie ein kleines Kind. »Nein, Lucie! So eine angenehme Überraschung! Dich habe ich ja seit Jahren nicht mehr gesehen. Komm rein. Was hältst du von einer Tasse Kaffee oder einem Muffin? Du siehst ein bisschen blass aus.«
Sie kam mit ihren Stöckelabsätzen herangetrippelt und war in Feuerwehrrot gekleidet, was ein paar Schattierungen vom derzeitigen Rot ihrer Haare abwich. Sie begutachtete mich mit dem geübten Auge eines Pferdekenners, der den Wert eines Zuchttiers abschätzt.
»Deine Augen sind blutunterlaufen«, sagte sie, bevor ich antworten konnte. »Hast du letzte Nacht denn überhaupt geschlafen, Kindchen? Natürlich nicht, nach all dem, was auf deiner Farm passiert ist. Ich habe die Frau ja nicht sehr gemocht, aber was man da mit ihr gemacht hat, das war furchtbar. Einfach furchtbar!«
»Ja. Madam.«
»Setz dich in den Schaukelstuhl da drüben, und lass mich dir eine Tasse Kaffee einschenken. Auf Kosten des Hauses. Möchtest du einen Muffin?«
»Ja, gerne.«
»Der Muffin kostet dich anderthalb Dollar. Du kannst nachher bezahlen. Ich habe Blaubeere oder Blaubeere. Die Romeos waren heute Morgen hier und haben fast alles weggegessen, als wenn eine Heuschreckenplage über mich hergefallen wäre.«
»Blaubeere ist prima.«
Sie schenkte Kaffee aus einer Kanne ein, auf der ›Raffiniert‹ stand, und reichte ihn mir. »Ich habe ein bisschen Kürbis und Zimt reingetan«, sagte sie. »Wegen Halloween.«
Der Kaffee war so gut wie ungenießbar, doch der Muffin, gefüllt mit säuerlichen Blaubeeren, war einsame Spitze.
»So, jetzt erzähl mir mal alles.« Sie saß in einem anderen Schaukelstuhl neben mir wie eine Königin auf ihrem Thron. Der Laden roch nach frisch gebrühtem Kaffee, Gewürzen und selbstgemachtem Gebäck, vermischt mit dem leicht abgestandenen Gestank ihrer Zentralheizung. Das durch ein nach Osten ausgerichtetes Fenster gefilterte Sonnenlicht warf ein Schattengitter auf dem Boden.
Ich wusste, dass sie nach Details gierte – je schauriger, desto besser.
»Ich bin sicher, dass du bereits alles gehört hast.« Ich wollte mich nicht noch einmal im Detail daran erinnern, wie ich Nicoles Leiche gefunden hatte – vor allem nicht nach dieser Nacht mit Quinn
»Na ja, aber man muss doch informiert bleiben.« Sie lächelte zufrieden. »Besonders wenn hier ein Serienmörder frei herumläuft. Erst diese Schriftstellerin und jetzt die Exfrau von deinem Winzer. Den muss das ja schwer getroffen haben.«
Ich ignorierte die scheunentorgroße Aufforderung, über Quinn zu reden, und sagte: »Wie kommst du darauf, dass dieselbe Person beide Morde begangen hat?«
Thelma beugte sich nach vorn und legte die Ellbogen auf die Knie. Die Augen hinter den dicken Brillengläsern verrieten Überraschung. »Warum, weiß ich auch nicht. Es ist nur so ein Gefühl. Du weißt doch, Lucille, dass manche Leute glauben, ich hätte psychotische Kräfte. Eine gottgegebene Fähigkeit, Dinge aus dem …« – sie machte eine theatralische Pause – »… Jenseits zu empfangen.«
Thelma hatte manchmal, wie Dominique, leichte Schwierigkeiten mit der englischen Sprache. »Du hast mir schon häufig davon erzählt«, sagte ich.
»Und natürlich gucke ich immer diese Polizeiserien im Fernsehen. Davon kann man viel lernen. Die Art, wie das wirklich gemacht wird.« Sie richtete sich auf. »Wie hast du sie überhaupt gefunden? Ich habe gehört, jemand hätte sie einfach auf einem Feld mitten im Niemandsland liegen gelassen.«
»Nicht im ›Niemandsland‹. In der Nähe von dort, wo meine Mutter zu Tode kam.«
Thelma arbeitete hart daran, die ewige Jugend zu erlangen, doch die Erwähnung meiner Mutter
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