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Der Botschafter

Der Botschafter

Titel: Der Botschafter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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Er griff instinktiv nach der Pistole, die Tom Moore ihm besorgt hatte, aber Sekunden später erkannte er die Lichter eines einzelnen Hubschraubers, der Shelter Island über Nassau Point und Great Hog Neck anflog, und merkte, daß dies nur eine vom Nachtwind verursachte akustische Täuschung gewesen war.
    Er erinnerte sich an jenen Morgen vor zwei Monaten, an dem der Hubschrauber mit Präsident James Beckwith an Bord auf derselben Route nach Shelter Island gekommen war und damit den Anstoß zu den Ereignissen gegeben hatte, die ihn jetzt hierher geführt hatten.
    Die Szenen zogen vor seinem inneren Auge vorbei, während der Hubschrauber näher kam.
    Adrian Carter im Central Park, wie er ihn zum Zurückkommen überredete.
    Kevin Maguire an einen Stuhl gefesselt, und Seamus Devlin lächelnd vor ihm stehend. Ich habe Maguire nicht auf dem Gewissen. Sie haben ihn umgebracht.

    Preston McDaniels, zermalmt von den Rädern eines U-Bahnzugs der Elendslinie.
    Delaroche, der lächelnd übers Geländer der Key Bridge auf ihn herabsah. Sie kennen die Fabel von dem Frosch und dem Skorpion, die den Nil überqueren?
    Geheimdienstarbeit funktioniert gelegentlich so, hatte sein Vater immer behauptet - wie es die Chaostheorie behauptet. Ein Windhauch streicht über einen Teich und bewegt einen Schilfhalm, von dem eine Libelle auffliegt, die dabei einen Frosch erschreckt und so weiter und so weiter, bis auf der anderen Seite der Erde und viele Wochen später ein Taifun eine Philippineninsel verwüstet.
    Über der Southold Bay ging die Maschine allmählich tiefer.
    Michael sah auf die Armbanduhr seines Vaters: 22.06 Uhr. Der Hubschrauber flog niedrig über den Shelter-Island-Sund und Dering Harbor an und landete auf der weiten Rasenfläche vor Cannon Point. Die Triebwerke verstummten pfeifend, und der Rotor hörte auf, sich zu drehen. Die Tür ging auf, und ein Besatzungsmitglied klappte eine kleine Treppe aus. Monica Tyler stieg mit einer schwarzen Umhängetasche über ihrer Schulter aus und marschierte resolut aufs Haus zu.
    »Bringen wir diesen Unsinn möglichst schnell hinter uns«, forderte sie Michael auf, als sie an ihm vorbeistapfte. »Sie wissen, daß ich sehr beschäftigt bin.«
    Monica Tyler ging sonst nie auf und ab, aber an diesem Abend tat sie es. Sie machte einen Rundgang durch Douglas Cannons Wohnzimmer wie eine Politikerin, die eine Wohnwagensiedlung nach einem Tornado besichtigt - ruhig, stoisch, mitfühlend, aber sorgfaltig darauf bedacht, nicht in Unrat zu treten. Sie blieb gelegentlich stehen, betrachtete mal stirnrunzelnd den Sofaüberwurf mit Blumenmuster und verzog mal das Gesicht beim Anblick des rustikalen Teppichs vor dem Kamin, in dem ein Feuer brannte.

    »Sie haben irgendwo Kameras, nicht wahr, Michael?« fragte sie in einem Tonfall, der eher wie eine Feststellung klang. »Und natürlich auch Mikrofone.« Sie setzte ihren rastlosen Rundgang durchs Zimmer fort. »Es stört Sie doch nicht, wenn ich die Vorhänge zuziehe, Michael? Ich habe nämlich auch diesen kleinen Lehrgang auf der ›Farm‹ absolviert, wissen Sie? Ich bin vielleicht kein erfahrener Geheimdienstler wie Sie, aber die Grundlagen unserer Arbeit sind mir trotzdem geläufig.« Sie zog demonstrativ die Vorhänge zu. »So«, sagte sie dabei, »das ist viel besser.«
    Dann setzte sie sich: eine arrogante, widerspenstige Zeugin, die auf dem Zeugenstuhl Platz nimmt. Monica schlug die Beine übereinander, ließ ihre langen Hände auf dem verwaschenen Baumwollstoff ihrer Jeans ruhen und fixierte Michael mit eisigem Blick. Die prosaische Umgebung beraubte sie aller Möglichkeiten physischer Einschüchterung. Hier gab es keinen goldenen Füllfederhalter, den sie wie ein Stilett führen konnte, keine attraktive Sekretärin, die ein Gespräch unterbrach, das überraschend eine unangenehme Wendung genommen hatte, keinen Tweedledum und Tweedledee, beide wachsam wie Dobermänner, mit ihren an sich gedrückten Ledermappen und abhörsicheren Mobiltelefonen.
    Delaroche betrat das Wohnzimmer. Er rauchte eine Zigarette.
    Monica funkelte ihn verächtlich an, denn Tabak gehörte wie persönliche Illoyalität zu den vielen Dingen, die sie nicht ausstehen konnte.
    »Dieser Mann heißt Jean-Paul Delaroche«, erklärte Michael ihr. »Wissen Sie, wer er ist?«
    »Ich nehme an, daß er ein ehemaliger KGB-Mörder mit dem Decknamen Oktober ist, der jetzt als international tätiger Berufskiller arbeitet.«
    »Wissen Sie, warum er hier ist?«
    »Vermutlich, weil er's gestern

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