Der Botschafter
Schneideraum. Hafis nahm die Kassette aus seiner Aktentasche und schob sie in einen Videorecorder.
Kassandra verließ den Raum, schloß die Tür und ließ starken Sandelholzduft zurück. Hafis qualmte, bis der Schneideraum einer Gaskammer glich und Michael ihn bat, nicht mehr zu rauchen. Michael sah sich den Videofilm dreimal bei normaler Geschwindigkeit und dreimal in Zeitlupe an. Dann drückte er die Auswerftaste und hielt die Kassette krampfhaft mit einer Hand umklammert.
»Er kann verdammt gut mit einer Waffe umgehen, dieser Kerl«, meinte Hafis. »Nicht viele könnten blitzschnell drei Männer erschießen und dann unverletzt flüchten.«
»Er kann extrem gut mit einer Waffe umgehen.«
»Wissen Sie, wer er ist?«
»Leider ja, glaube ich.«
11
BELFAST
Die Zentrale der Ulster Unionist Party befindet sich in dem dreistöckigen Gebäude Nr. 3 Glengall Street in der Nähe des Hotels Europa und dem Grand Opera House. Wegen seiner Lage am Westrand des Stadtzentrums und nahe der Falls Road war die UUP-Zentrale während der Unruhen ein häufiges Ziel von IRA-Anschlägen. Aber die IRA hielt vorläufig den Waffenstillstand ein, deshalb war der Mann in dem silbernen Vauxhall nur wenig besorgt, als er frühmorgens im Regen zur Glengall Street unterwegs war. Ian Morris war einer der vier Vizepräsidenten im Ulster Unionist Council, dem Zentralkomitee der Partei. Ulster-Loyalismus lag ihm im Blut.
Als Belfast im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert einen Industrieboom erlebte, hatte sein Urgroßvater ein Vermögen mit Leinen gemacht und sich einen prächtigen Landsitz im Forthriver Valley mit Blick auf die Slums von West Belfast gebaut. 1912, als die ursprüngliche Ulster Volunteer Force aufgestellt wurde, um gegen die Vereinigung Ulsters mit Irland zu kämpfen, hatte Morris' Vorfahr ihr gestattet, Waffen und Nachschub in den Stallungen und im Park seines Landsitzes zu lagern.
Als junger Mann hatte Morris keine Geldsorgen gekannt - das Vermögen seines Urgroßvaters verschaffte ihm ein behagliches Einkommen - und eigentlich vorgehabt, nach dem Studium in Cambridge die akademische Laufbahn einzuschlagen. Aber wie so viele Männer seiner Generation auf beiden Seiten der quer durch Ulster verlaufenden religiösen Trennungslinie hatte er sich den Unruhen nicht entziehen können und sich statt dessen der Gewalt verschrieben. Er war in die Ulster Volunteer Force eingetreten und hatte später wegen eines Bombenanschlags auf einen katholischen Pub am Broadway fünf Jahre im Gefängnis »the Maze« gesessen. In der Haft hatte er beschlossen, Schußwaffen und Bomben abzuschwören und für den Frieden zu kämpfen.
Heutzutage ließ nichts mehr an Ian Morris darauf schließen, daß er einmal dem terroristischen Untergrund in Nordirland angehört hatte. Seine ganze Wohnung im Bezirk Castlereagh in East Belfast stand voller Bücher. Er sprach Latein, Griechisch und Gälisch - ungewöhnlich für einen Protestanten, da die meisten Gälisch für die Sprache der Katholiken hielten. Als er bei gleichmäßigem Regen durch die Castlereagh Street fuhr, drang aus den Lautsprechern des Vauxhalls leise Mozarts Klavierkonzert Nr. 20 in d-Moll, gespielt von Alfred Brendel.
Er bog auf die May Street ab und fuhr am Belfaster Rathaus vorbei.
In der Brunswick Street blieb ein Lieferwagen ruckelnd vor ihm stehen, als sei sein Motor abgestorben.
Morris hupte einmal kurz und höflich, aber der Lieferwagen bewegte sich nicht weiter. Er hatte um neun eine Besprechung und war ohnehin schon etwas spät dran. Er hupte nochmals - wieder ohne Erfolg.
Morris stellte den Mozart ab. Dann sah er, daß vor ihm die Fahrertür des Lieferwagens aufging und ein Mann in einer Lederjacke ausstieg. Morris ließ sein Fenster herunter, aber der Mann baute sich direkt vor dem Vauxhall auf und zog eine großkalibrige Pistole aus seiner Lederjacke.
Kurz vor Mittag glich die Redaktion des Belfast Telegraph einem Tollhaus. Die wichtigste Zeitung Nordirlands würde mit ausführlicher Berichterstattung über den Mord an Ian Morris erscheinen: mit einer Titelgeschichte, einer Kolumne über Morris' Laufbahn in der Ulster Unionist Party und der Ulster Volunteer Force sowie einer Analyse des Standes des Friedensprozesses. Jetzt fehlte nur noch ein Bekenneranruf.
Um 12.05 Uhr klingelte eines der Telefone in der Redaktion.
Ein junger Redaktionsassistent namens Clarke nahm den Hörer ab. »Telegraph, Redaktion«, meldete Clarke sich laut, um den Hintergrundlärm zu
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