Der Briefwechsel
Erzählung in einer für die Menschheitsgeschichte wichtigen Epoche, so handelt der Versuch über den geglückten Tag von einer bei jedermann vorhandenen Idee, deren Verwirklichung jedoch, wenn überhaupt, nur selten glückt.
Was ist der geglückte Tag? Er ist weder ein unbeschwerter Tag noch ein Glückstag, auch kein nur sorgloser oder nur schöner Tag und ebenfalls kein »großer Tag« für die Wissenschaft oder die Menschheit. »Der geglückte Tag ist unvergleichlich. Er ist einzigartig.« Wie kann aber die Beschreibung oder Aufzählung der Elemente und Probleme von etwas Unvergleichlichem zum Thema werden? Zum einen durch drei konvergierende Erfahrungen des Autors: die Betrachtung der leicht geschwungenen »Line of Beauty« auf einem Selbstporträt William Hogarths, eine kalkweiße, gekrümmte Diagonale auf einem am Bodensee entdeckten Kiesel, der auf einer Zugfahrt infolge einer großen Kurve plötzlich mögliche Blick auf die ganze Stadt Paris. Diesen drei so unterschiedlichen Erfahrungen ist gemeinsam: auf der Fahrt mit dem Vorortzug nimmt für ihn der Versuch über den geglückten Tag konkrete Gestalt an; diese S-förmige Fahrt um die ganze Stadt hat als Form ihre Entsprechung in jener Formensprache, wie die »Line of Beauty« sie ausdrückt; und die Ader im Bodenseekiesel belegt, daß diese ästhetische Form eine Entsprechung in den Dingen besitzt. Zum anderen durch die generelle Einstellung unserer Zeit: in ihr wird das geglückte Leben nicht mehr, wie bei den Griechen, vom richtigen »Augenblick« abhängig gemacht, ist auch nicht mehr, wie bei den Christen, auf eine verheißene Ewigkeit bezogen und beruht gleichfalls nicht
581 mehr, wie nach der Säkularisation, auf der Vorstellung eines durch Handeln Hier und Jetzt zu glückenden ganzen Lebens, sondern, in Übereinstimmung mit der fragmentierten Zeit, am geglückten Tag gemessen.
Ein Traktat ist der Versuch über den geglückten Tag jedoch keineswegs. Er erzählt vielmehr, und darin liegt seine große poetische Kraft, von einer Idee. Und diese Idee ist erzählbar, wie Peter Handke nachdrücklich zeigt. Der geglückte Tag ist nämlich ein Abenteuer: er ist für den Autor, zumindest in unseren halbwegs friedlichen Breiten, das Abenteuer mit dem Tag als Gegenüber, als Gegner, mit dessen Möglichkeiten, die ihn in jedem Augenblick scheitern lassen können. Von daher ist für einen geglückten Tag ein geglückter Augenblick nicht hinreichend, ebensowenig wie ihn ein Mißlingen im Ganzen scheitern lassen kann. Erzählbar von der »Expedition Tag« sind also einzelne wichtige Momente: Die generelle Haltung: »die Tage, rein für sich, … jeder Augenblick greifbar als Möglichkeit«; die Anfangsbedingungen: die ersten Momente des »vollen Bewußtseins nach dem Schlaf der Nacht«, die die »Tonart für die gesamte Tagesreise« abgeben, die »Nachsicht mit mir selber, mit meiner Natur, mit meinen Unverbesserlichkeiten, wie auch eine Einsicht in das … täglich Gegebene«. Beim möglichen Scheitern kommt es darauf an, »jeweils im Moment des Mißgeschicks … die Geistesgegenwart aufzubringen für die andere Spielart des Moments und ihn so zu verwandeln«; die Chronologie des geglückten Tages: »Wie üblich, stand die alte Frau, wenn auch eine andere als gestern, im Zeitungsgeschäft, den Einkauf längst schon getan, und sprach sich aus. Die Leiter im Garten, Inbild des Aus-sich-Heraussteigen-Sollens, hatte sieben Stufen. Der Sand auf den Lastern der Vorstadt zeigte die Farbe der Fassade von St. Germain-des Prés. Das Kinn einer jungen Leserin berührte sich mit dem Hals. Ein Blechkübel nahm
582 seine Form an … Es geschieht, daß die paar Männer im Café miteinander schweigen, und der Ortsfremde mit ihnen mitschweigt. Es geschieht zuletzt sogar, daß nichts geschieht … Am geglückten Tag werde ich rein Medium gewesen sein, schlicht mit dem Tag mitgegangen sein …«
Der Versuch über den geglückten Tag gibt diesen Einzelmomenten seinen Zusammenhang, ja sie erhalten Zusammenhang nur in und durch die Erzählerstimme. In diesem Sinne verleiht Peter Handke in seinem Buch den alltäglichen Erlebnissen erst ihre Form und läßt sie zu einem Gesamtbild zusammentreten. Und bei dieser Formgebung sind die Erfahrungen von Peter Handke mit der »Line of Beauty«, dem Bodenseekiesel und der Zugfahrt in Paris leitend. Ebenso wie die von ihnen vermittelte Erfahrung deutlich und vorgegebene Bahnen meidend ist, einfach strukturierend und deutlich markierend,
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