Der Brombeerpirat
nicht bewusst in seine Ermittlungen eingegriffen, schließlich wusste sie bis vor einer Stunde noch nichts über den Tod des Mädchens, doch sie hatte sich mit dem Dienstausweis Zutritt zur Wohnung der Konstantins verschafft. Und das war ein Fehler gewesen. Es würde ihr eine ernste Verwarnung einbringen.
»So ein Schwachsinn! Mein Bruder ist kein böser Onkel, der blutjunge Mädchen vernascht.« Wencke wünschte, sie könnte diesen Satz auch mit der Gewissheit glauben, mit der sie ihn aussprach. Denn eigentlich wusste sie gar nicht, wen Jasper nun vernaschte und wen nicht.
Höchstens Rika, klar, das lag natürlich auf der Hand. Und Rika war weder besonders jung noch in irgendeiner Weise mädchenhaft, alles andere als eine Lolita. Wencke hatte sie zwar erst drei oder vier Male gesehen, doch ihre mütterliche Oberweite und das gebärfreudige Becken waren ihr noch gut im Gedächtnis geblieben. Eine Vollblutfrau, für Rubens etwas zu mager und für den Laufsteg etwas zu rund. Doch zugegeben: Eigentlich hatte sie schon immer gedacht, dass Rika nicht zu Jasper passte. Warum, das konnte sie nicht genau sagen. Oder vielleicht doch? Rika war erwachsen, das war es. Rika war erwachsen und Jasper war ein Kind. Hatte das etwas zu bedeuten?
Warum hatte Sanders nicht den Hörer abgehoben? Er hätte doch bloß über den Schreibtisch der Norderneyer Kollegin greifen, eine Nummer wählen und sich mit der internen Ermittlung verbinden lassen müssen, wenn er die Durchwahl nicht sogar auswendig kannte. Doch er hatte es nicht getan. Er hatte in diesem fremden Büro gesessen, sie nicht aus den Augen gelassen und sich dabei offensichtlich sehr wohl gefühlt. Wencke war schlagartig klar geworden, was er bezweckte. Er wollte sie in die Enge treiben. Er wollte, dass sie einen weiteren Fehler beging. Eine ernste Verwarnung war ihm nicht genug. Er wollte ihren Stuhl.
»Mein Bruder wird heute vierzig. Ich habe mich heute Morgen entschieden, ihn zu besuchen.« Wencke war sich beinahe lächerlich vorgekommen, weil sie sich vor Axel Sanders, ausgerechnet vor ihrem neunmalklugen Kollegen Axel Sanders, rechtfertigen musste.
Und dann die Krönung: »Ich dachte, Sie wollten mit Ansgar nach La Palma?«
Woher wusste Sanders den Namen ihres Freundes?
»Falsch gedacht.« Wencke war auf der Hut, kein persönliches Wort mehr, dieser Sanders sog alles auf wie ein Schwamm, er hatte keine Skrupel, selbst vor ihrem Privatleben machte er nicht Halt.
»Und wo ist Ihr Bruder jetzt? Warum sitzen Sie mit Dienstausweis bei Familie Konstantin in der guten Stube, statt ausgiebig den runden Geburtstag im Kreise der Familie zu feiern?«
Sätze waren ihr die Kehle hinaufgekrochen: Soll das etwa ein Verhör sein? Bin ich Ihnen in irgendeiner Weise Rechenschaft schuldig? Können Sie sich nicht um Ihren Job statt um meine Privatangelegenheiten kümmern? Doch Wencke hatte es geschafft, die Worte mühsam wieder hinunterzuschlucken. Es war besser so, er hatte sie in der Hand. So ein Mist aber auch.
Und Rika hatte alles angezettelt. Vielleicht nicht bewusst, doch mit ihrer Art, Unwichtiges breitzutreten und Wesentliches für sich zu behalten, hatte sie Wencke in diese unmögliche Situation gebracht. Schönen Dank auch, liebe Beinahe-Schwägerin.
»Hast du schon Feierabend?«, brachte Wencke trotz allem mit zuckersüßer Stimme hervor.
Rika drehte sich um. »Wencke! Komm, hol dir ein Glas aus der Wohnzimmervitrine und stoß mit mir auf Jaspers Vierzigsten an!« Ihre Stimme klang träge und schwer, sie hatte sich anscheinend schon einige Male selbst zugeprostet. Die Sektflasche war voll, doch als Wencke das Glas holte, sah sie eine bereits geleerte im Flur stehen. Also dann – auf ihr Wohl!
Wencke schenkte sich selbst ein und goss Rika nach. Nach dem ersten Schluck musste sie aufstoßen. Sie mochte eigentlich keinen Sekt, auch kein Bier, alles, was prickelte, war Wencke zuwider. Rika trank hastig, es ging ihr nicht gut, gar nicht gut. Obwohl Wencke sie nicht wirklich kannte, fiel ihr das Elend auf, das mit Rika in der Hängematte zu liegen schien.
»Mein Rücken, weißt du …« Rika schob sich die Hand unter das Becken, sie trug noch den Schwesternkittel. »Ich habe mich heute etwas früher verabschiedet. Kann nichts mehr heben. Aber setz dich doch.«
Wencke blieb lieber stehen. Zwischen den dichten Kiefern am Ende des Gartens hindurch fiel etwas Sonnenlicht direkt auf ihr Gesicht. Sie schloss die Augen. Der leise, stetige Inselwind fächelte ihr sanft wie ein
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