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Der Buddha aus der Vorstadt

Der Buddha aus der Vorstadt

Titel: Der Buddha aus der Vorstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanif Kureishi
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für die Unterprivilegierten Interesse an Heater gefunden. Abbado und (einmal) Calvino besuchten Heater in seinem Haus, und das Universalgenie forderte ihn auf, von Messerstechereien, Glasgows Armut und der allgegenwärtigen Verkommenheit und Gewalt zu reden. Nach dem Essen öffnete Heater die Fenster, um den Gestank der wahren Welt ins Zimmer zu lassen. Heater erfüllte die Erwartungen seines Publikums; er tat es aus dem gleichen Grund wie Clapton, der bei jedem seiner Auftritte »Layla« spielte. Doch Heater brachte seine beißende Gesellschaftskritik rasch hinter sich, um endlich die späten Beethovenquartette erwähnen zu können oder zu erklären, was ihm an Huysmans nicht gefiel.
    Eines Abends war Heater bei der Presseaufführung von »La Boheme« in Covent Garden, und Eleanor und ich kuschelten uns gemütlich auf das Sofa, sahen fern und tranken Wein. So mochte ich es: mit ihr allein zu sein und sie über die Leute auszufragen, die uns zu sich eingeladen hatten. Die hatten eine Geschichte, diese oberen Zehntausend, und Eleanor erzählte Geschichten aus dieser Geschichte. Der Großvater von irgend jemand hatte sich mit Lytton Strachev gestritten, der Vater von jemand anderem war Peer der Labour Party und hatte eine Affäre mit der Frau eines Abgeordneten der Konservativen gehabt; und wieder ein anderes Flittchen war mit viel Glück Star in einem Film geworden, der bald in die Kinos kommen und zu dessen Premiere alle Welt in die Curzon Street gehen würde. Irgend jemand hatte einen Roman über ihren früheren Geliebten geschrieben, und es war leicht zu durchschauen, um wen es sich dabei handelte.
    Es muß jedoch ziemlich offensichtlich gewesen sein, daß ich ihr heute nicht zuhörte, denn sie drehte sich zu mir hin und sagte: »He, du Komiker, gib mir einen Kuß.« Ich war plötzlich hellwach. »Es ist schon so lange her, Karim, weißt du, ich kann mich kaum noch daran erinnern, wie sich Lippen anfühlen.«
    »So«, sagte ich.
    Sie fühlten sich heiß und wundervoll an, und wir haben uns bestimmt eine halbe Stunde lang geküßt. Ich bin mir allerdings nicht sicher, wie lange es tatsächlich dauerte, weil ich mit meinen Gedanken bald nicht mehr bei dem war, was in meinen Annalen als Kuß meines Lebens hätte verzeichnet werden sollen. Ich dachte an etwas anderes. O ja, ich wurde völlig überschwemmt von wütenden Gedanken, die sich in den Vordergrund drängten und meine Lippen zwar nicht gerade betäubten, sie aber von mir loslösten, als wären sie plötzlich ein Fremdkörper geworden, wie eine Brille zum Beispiel.
    In den letzten Wochen hatte ich erkannt, was für ein Ignorant ich war. Zugegeben, seit einiger Zeit hatte ich Glück, und mein Leben änderte sich rapide, aber ich hatte kaum darüber nachgedacht. Wenn ich allerdings über mich nachdachte und mich mit den Leuten verglich, die zu Eleanors Clique gehörten, dann wußte ich, daß ich überhaupt nichts wußte; ich war leer, ein intellektueller Hohlraum. Ich hatte noch nicht einmal den Namen Cromwell gehört. Ich wußte weder etwas von Zoologie noch von Geologie, Astronomie, Sprachen, Mathematik oder Physik.
    Fast alle Kids, mit denen ich aufgewachsen war, gingen mit sechzehn von der Schule und arbeiteten heute bei einer Versicherung, in einer Autowerkstatt oder als Geschäftsführer (Radio- und Fernsehabteilung) in einem Kaufhaus. Den Warnungen meines Vaters zum Trotz war ich, ohne zu zögern, vom College abgegangen. In den Vorstädten hielt man Bildung nicht für besonders vorteilhaft, auf jeden Fall nicht für etwas, was für sich selbst genommen bereits einen Wert hatte. Früh ins Geschäft einzusteigen, das war wichtig. Und jetzt gab ich mich mit Leuten ab, die so selbstverständlich Bücher schrieben, wie wir früher Fußball gespielt hatten. Aber wütend war ich, wütend und voller Haß gegen sie und mich, weil sie so selbstsicher waren und soviel wußten. Dieses ungezwungene Plaudern über Kunst, Theater, Architektur und Reisen; die Sprachkenntnisse, das Vokabular, das Wissen, wie man sich in dieser Kultur bewegte, waren ein unschätzbares und unersetzliches Kapital.
    An meiner Schule hatten sie uns ein bißchen Französisch beigebracht, doch wer versuchte, ein Wort richtig auszusprechen, wurde ausgelacht. Bei einem Ausflug nach Calais hatten wir einen dieser lästernden Franzmänner hinter einem Restaurant verprügelt. Durch unser Nichtwissen waren wir andererseits den Kids aus den Privatschulen überlegen, diesen Typen in ihren Kotzuniformen

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