Der Buddha aus der Vorstadt
unzufrieden fühlte.
Wann immer sie diese Bekenntnissitzungen abhielten, sorgte Dad dafür, daß Ted sich nützlich machte. »Er kann doch schließlich gleichzeitig reden und arbeiten, oder vielleicht nicht?« sagte er, während er in einem Gartenstuhl aus Aluminium saß und Ted, als Gegenleistung für Dads Aufmerksamkeit, manchmal in Tränen aufgelöst, Steckdosen unter Putz verlegte, Regale für die orientalischen Bücher zimmerte, eine Tür abschmirgelte oder das Badezimmer flieste. »Verschieb deinen Selbstmord, Ted, bis du mit dem Boden fertig bist«, sagte Dad.
Heute abend hielt sich Dad nicht mit Gin und Tonic auf. Im Zimmer war kein Laut zu hören. Dad sah vor sich hin und schwieg. Zuerst war es ein kleines Schweigen. Aber es dauerte und dauerte und wurde ein großes Schweigen: Auf nichts folgte nichts, dem wiederum sehr bald mehr nichts folgte, während Dad dort saß, den Blick starr, aber sorgenvoll geradeaus gerichtet. Mir trat der Schweiß auf die Stirn. Ein Kichern stieg in meiner Kehle auf. Ich fragte mich, ob er sie zum Narren halten und eine Stunde schweigend sitzen bleiben würde (vielleicht würde er noch einen mystischen Satz wie: »Getrocknetes Exkrement auf dem Haupt einer Taube« zum Besten geben), um dann, nachdem er der Bourgeoisie von Chislehurst einen vorzüglichen Begriff ihrer inneren Leere vermittelt hatte, seinen Mantel anzuziehen und zu seiner Frau nach Hause zu fahren.
Endlich begann er seinen Sermon, den er diesmal mit nervenaufreibenden Zischgeräuschen, Schweigephasen und starren Blicken ins Publikum musikalisch unterlegte. Und er zischte und schwieg und starrte so leise ins Publikum, daß die armen Idioten sich Vorbeugen mußten, um ihn hören zu können. Aber keiner war mit seinen Gedanken woanders; ihre Ohren waren weit geöffnet.
»In unseren Büros und an unseren Arbeitsplätzen sagen wir den anderen gern, was sie tun sollen. Wir stellen sie bloß. Wir vergleichen ihre Arbeit mit der unseren und lassen kein gutes Haar an ihnen. Wir leben in ständiger Konkurrenz. Wir geben an und tratschen. Wir träumen davon, gut behandelt zu werden und andere schlecht zu behandeln ...«
Hinter Dad öffnete sich langsam eine Tür. Ein Pärchen war zu sehen - ein großer, junger Mann mit kurzem, abstehendem und weiß gefärbtem Haar. Er trug silberfarbene Schuhe und ein glänzendes, silbriges Jackett. Er sah aus wie ein Astronaut. Im Vergleich zu ihm wirkte das Mädchen an seiner Seite eher schlampig. Sie war vielleicht siebzehn, trug einen langen Hippie-Kittel, einen Rock, der bis auf den Boden fiel, und Haare bis zu den Hüften. Die Tür schloß sich wieder, und sie waren verschwunden; niemand war gestört worden. Alle hörten Dad zu, nur Jean nicht, die ihr Haar in den Nacken warf, als wollte sie sich Dad damit vom Leib halten. Als sie zu Ted hinübersah und ein Zeichen des Zuspruchs von ihm erwartete, bekam sie keines: Auch er war von Dad völlig fasziniert.
Wie ein Bühneninspizient, der sieht, daß seine Aufführung gut läuft, und weiß, daß es nichts weiter zu tun gibt, schlüpfte ich durch die Terrassentür aus dem Zimmer. »Wir müssen einen völlig neuen Weg finden, unser Leben zu leben«, war der letzte Satz, den ich hörte.
Es war weniger die Bedeutung der einzelnen Worte als vielmehr Dads Anwesenheit, die den Lärm in den Köpfen der Menschen zum Verstummen brachte. Er strahlte eine Gelassenheit, eine Ruhe und Selbstsicherheit aus, die mir das Gefühl gaben, ich sei aus Licht und Luft geschaffen, als ich durch die stillen, parfümierten Zimmer von Carl und Marianne glitt, mich manchmal hinsetzte und in die Weite starrte, dann wieder nur so umherschlenderte. Laute und Lautlosigkeit nahm ich deutlicher wahr; die Konturen der Dinge waren schärfer. Ich überraschte mich dabei, daß ich voller Bewunderung in den Anblick einiger Kamelien in einer Jugendstilvase versunken war. Durch Dads innere Ruhe und Konzentration erlebte ich die Bäume im Garten überraschend neu; ohne zu assoziieren und analysieren, sah ich in die Welt. Der Baum bestand aus Form und Farbe, nicht aus Blättern und Ästen. Aber langsam begann die Frische der Wahrnehmung nachzulassen; mein Verstand beschleunigte wieder und füllte sich allmählich mit Gedanken. Dad war nicht wirkungslos geblieben, und ich war zufrieden. Aber der Zauber war noch nicht vorbei: Da war noch etwas - eine Stimme. Und während ich dort in der Eingangshalle von Carl und Marianne stand, trug mir diese Stimme Gedichte vor. Ich verstand
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