Der Buddha aus der Vorstadt
aufgewachsen, und wir hatten nie aufgehört, miteinander zu spielen. Jamila und ihre Eltern waren für mich wie eine zweite Familie. Wenn sie mich zu Hause so weit trieben, daß ich mir überlegte, von dort wegzulaufen, war es tröstlich zu wissen, daß es immer einen Ort gab, an dem es, menschlich gesehen, wärmer war als bei uns und an dem nicht alle ständig unter Hochspannung standen.
Wenn ich kam, fütterte mich Prinzessin Jeeta mit Dutzenden scharfer Kebabs, die ich über alles liebte. Ich bestrich sie mit Mango-Chutney und wickelte sie in Chapati ein, weshalb sie mich Feuerschlucker nannte. Außerdem nahm ich nirgendwo so gern ein Bad wie in ihrem Haus. Obwohl das Badezimmer völlig vergammelt war, der Putz von den Wänden fiel, ein Großteil der Decke in Haufen auf dem Boden lag und der Ascot-Ofen so gefährlich wie eine Tretmine war, setzte sich Jeeta neben die Badewanne, massierte mir den Kopf mit Olivenöl und schlüpfte mit ihren flinken Fingern in jede Einbuchtung an meinem Schädel, bis mein Körper zu schmelzen schien. Als Gegenleistung befahl sie Jamila und mir, über ihren Rücken zu spazieren. Jeeta lag neben ihrem Bett auf dem Boden, und Jammie und ich hielten uns aneinander fest und stapften auf ihr hin und her, während Jeeta die Kommandos gab: »Drückt eure Zehen in meinen Nacken - er ist steif, steif, wie aus Eisen! Ja, da, da! Ein bißchen tiefer! Ja, da, auf dem Wulst, auf dem Felsen, ja, treppauf, treppab und auf den Treppenabsatz!« Jamila war in jeder Hinsicht viel weiter als ich. Neben dem Laden war eine Bücherei, und jahrelang lud Miss Cutmore, die Bibliothekarin, Jamila nach der Schule zum Tee zu sich ein. Miss Cutmore war Missionarin in Afrika gewesen, aber Frankreich gefiel ihr auch, weil sie in Bordeaux an gebrochenem Herzen gelitten hatte. Mit dreizehn las Jamila nonstop; Baudelaire, Colette, Radiguet und die ganze schweinische Bande, sie lieh sich Ravel-Platten aus und Scheiben von Sängern, die in Frankreich populär waren, zum Beispiel Billie Holiday. Dann hatte sie plötzlich den Spleen, sie. wolle Simone de Beauvoir sein; seit damals vögelten wir ungefähr alle paar Wochen miteinander - meistens in einem Bushäuschen, einem Abrißhaus oder auf einem zerbombten Grundstück. Diese Bücher müssen wie Dynamit gewesen sein, denn wir haben es sogar in öffentlichen Toiletten getrieben. Skrupellos schlenderte Jammie direkt auf die Herrentoilette und schloß hinter uns die Kabine. Das fand sie sehr pariserisch, und zu allem Überfluß trug sie auch noch Federboas. Es war natürlich alles Angabe, und ich lernte nichts über Sex, nicht das Geringste über das Wo und Wie und Hier und Da, und meine Angst vor Intimität verlor ich auch kein bißchen.
Durch Miss Cutmore, die Jamila gern hatte, erhielt sie die bestmögliche Ausbildung. Ich glaube, allein die Tatsache, daß sie sich jahrelang mit jemandem getroffen hat, der Schriftsteller, Kaffee und subversive Ideen liebte und ihr sagte, wie brillant sie sei, veränderte sie für immer. Ich klagte ständig darüber, daß ich mir auch einen Lehrer wie Miss Cutmore wünschte.
Als Miss Cutmore jedoch von Südlondon nach Bath zog, ließ Jamila kein gutes Haar an ihr und begann, sie zu hassen, weil sie vergessen hätte, daß Jamila Inderin ist. Jamila glaubte, daß Miss Cutmore eigentlich nur alles Fremdländische in ihr hatte ausrotten wollen. »Sie hat mit meinen Eltern gesprochen, als wären es Bauern«, sagte Jamila. Besonders trieb mich zur Weißglut, wenn sie behauptete, daß Miss Cutmore sie kolonialisiert hätte, denn schließlich war Jamila der willensstärkste Mensch, den ich je getroffen hatte; aus ihr konnte keiner eine Kolonie machen. Außerdem haßte ich undankbare Menschen. Ohne Miss Cutmore hätte Jamila nicht einmal das Wort »Kolonie« gekannt. »Miss Cutmore hat dir den richtigen Weg gezeigt«, sagte ich ihr.
Über die Mediothek lernte Jamila bald darauf Bessie und Sarah und Dinah und Ella kennen, deren Platten sie mit zu mir nach Hause brachte und Dad vorspielte. Dann saßen sie zusammen auf seinem Bett, fuchtelten mit den Armen herum und sangen die Texte mit. Miss Cutmore hatte ihr auch von Gleichheit, Brüderlichkeit und dem dritten Ding erzählt, das ich immer vergesse, und deshalb hatte Jammie in ihrer Brieftasche ein Foto von Angela Davis, trug schwarze Klamotten und war in der Schule ziemlich aufsässig. Monatelang hieß es nur Soledad hier und Soledad da. Ja, manchmal waren Jammie und ich Franzosen, und dann
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