Der Buddha aus der Vorstadt
so beherrscht, und sie zweifelte nie daran, was zu tun war.
»Und er liebt sie. Du hast gesagt, dein Dad liebt Eva.«
»Ja, kann schon sein, daß ich das gesagt habe. Ich glaube, er liebt sie. Er hat es nicht gerade überall herumposaunt.«
»Na, Milchgesicht, der Liebe soll man sich nicht in den Weg stellen. Oder? Glaubst du etwa nicht an die Liebe?«
»Ja, natürlich. Okay. Theoretisch. Verdammt noch mal, Jammie!«
Ehe ich mich’s versah, kamen wir an einer öffentlichen Toilette neben dem Park vorbei, und Jammie nahm mich an der Hand. Sie zerrte mich hinter sich her, und als mir das Geruchsgemisch aus Urin, Scheiße und Desinfektionsmittel in die Nase stieg, das ich immer mit Liebe in Verbindung brachte, mußte ich einfach stehenbleiben und nachdenken. Ich glaubte nicht an Monogamie oder an ähnlich überholte Geschichten, aber meine Gefühle waren immer noch bei Charlie, und ich konnte an niemand anderen denken, nicht einmal an Jammie.
Mir war klar, wie ungewöhnlich es war, daß ich mit Jungen ebenso gern schlief wie mit Mädchen. Ich mochte starke Körper und die Nacken der Jungen. Es gefiel mir, von Männern genommen zu werden, besonders wenn sie härter zupackten; und mir gefiel es, wenn sich etwas - ein Bürstenstiel, ein Füllfederhalterende oder Finger - in meinen Hintern schob. Aber ich mochte auch Mösen und Brüste, die Sanftheit der Frauen, die langen, glatten Beine und die Art, wie Frauen sich anzogen. Ich spürte, daß es mir das Herz brechen würde, wenn ich mich für eines von beiden entscheiden müßte, als hätte ich die Wahl zwischen den Beatles oder den Rolling Stones. Ich dachte nicht besonders gern über die ganze Sache nach, weil ich Angst hatte, es könnte sich heraussteilen, daß ich pervers war und eine Behandlung brauchte, mit Hormonen oder Elektroschocks. Aber wenn ich dann darüber nachdachte, hielt ich mich immer für einen glücklichen Menschen, weil ich von einer Party mit jedem, gleich welchen Geschlechts, nach Hause gehen konnte - nicht, daß ich auf besonders viele Parties ging, eigentlich ging ich auf gar keine, aber falls ich es tun würde, konnte ich, wie soll ich sagen, in beide Richtungen Ausschau halten. Aber meine wichtigste Liebe im Moment war die zu meinem Charlie, und sogar noch wichtiger als diese Liebe waren Mum und Dad und Eva. Wie konnte ich da an etwas anderes denken?
Ich hatte den hervorragenden Einfall, Jammie zu fragen: »Und was gibt’s bei dir Neues? Erzähl.«
Sie schwieg einen Moment lang, und ihr Schweigen verfehlte seine Wirkung nicht. »Laß uns noch eine Runde um den Block machen«, sagte sie. »Die Lage ist ernst hoch zwei, Milchgesicht. Ich weiß nicht, was mit mir passiert. Nix zum Lachen, okay?«
Sie erzählte von Anfang an.
Unter dem Einfluß von Angela Davis hatte Jamila angefangen, täglich Sport zu treiben. Sie lernte Karate und Judo und stand früh auf, um sich zu strecken, um zu laufen und Liegestütze zu machen. Jamila lief traumhaft gut; sie hätte über Schnee laufen können, ohne eine Spur zu hinterlassen. Sie bereitete sich auf den Guerillakrieg vor, der, da war sie sich sicher, kommen würde, wenn die Weißen sich schließlich gegen die Schwarzen und Asiaten wandten und versuchten, uns in Gaskammern zu schicken oder von ihrem untergehenden Schiff in leckgeschlagene Boote zu schubsen.
Das war keineswegs so lächerlich, wie es klingen mag. Die Gegend, in der Jamila lebte, lag näher an London als unsere Suburbia und war wesentlich ärmer. Überall trieben neofaschistische Banden und Schläger ihr Unwesen, die ihre eigenen Kneipen und Klubs und Läden hatten. An Samstagen standen sie auf der High Street und verkauften ihre Zeitungen und Broschüren. Sie lungerten auch vor den Schulen, den Collegegebäuden und Fußballstadien herum, zum Beispiel vor dem Millwall und dem Crystal Palace. Nachts zogen sie durch die Straßen, schlugen Asiaten zusammen und warfen Scheiße und brennende Lumpen durch Briefkastenschlitze. Oft sah man die bösartigen, weißen, haßerfüllten Gesichter öffentliche Versammlungen abhalten und mit dem Union Jack und von der Polizei beschützt durch die Straßen marschieren. Es gab keine Anzeichen dafür, daß diese Menschen verschwinden würden - keine Anzeichen dafür, daß ihre Macht abnehmen und nicht sogar zunehmen würde. Der Alltag von Anwar und Jeeta und Jamila war geprägt von der Angst vor Gewalt. Ich bin mir sicher, daß sie jeden Tag daran dachten. Jeeta hatte eimerweise Wasser neben ihrem Bett
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