Der Bund der Drachenlanze - 09 Ellen Porath
Ehe überfielen sie. Seit dem Ende der Ehe versuchte
sie solche Erinnerungen zu verdrängen, aber sie kamen
ungebeten zurück, meist bei Nacht.
Sie schüttelte leicht den Kopf, um die ungerufenen Gedanken zu vertreiben. »Und der Halbelf, Hauptmann Uth
Matar?« flüsterte sie in sich hinein.
Kai-lid wartete geduldig, bis der Regen nachließ und die
beiden Gestalten herauskamen, wobei sie ihre Kleider zurechtzogen und das regennasse Haar mit den Fingern
durchkämmten. Geschützt vom Umhang des Mannes gingen sie eng aneinandergedrängt gemeinsam in die Nacht.
Die Zauberin wartete, bis sie fort waren, und überquerte
dann die Straße. Ihre Finger durchsuchten die Steine und
den Schmutz auf dem Boden vor dem Haus. Die Bodenziegel waren noch warm, doch sie fand keine weitere Spur
von dem Paar. Gerade als sie aufgeben wollte, kullerte etwas Kleines, Hartes unter ihrer Hand hervor. Jetzt sprach
sie doch einen Lichtzauber, woraufhin ein blaßgrüner
Schein den Eingang beleuchtete und ihre zarten, eichenbraunen Züge zu sehen waren. Wieder suchte sie, bis sie
einen dunklen Knopf fand. Wahrscheinlich war er aus
Schildpatt; der Polierer hatte es nicht geschaf ft , die Unebenheiten des Panzers zu glätten.
Der Knopf war klein, aber wenn er Kitiara Uth Matar oder dem Mann gehörte, würde das der Zauberin reichen.
Sie hielt ihn fest, während sie durch die dunklen Straßen
huschte, sich in die Schatten drückte und niemandem begegnete.
In der Schwärze der Nacht hätte eine gewöhnliche Frau
langsamer gehen müssen, doch Kai-lids Magie half ihr, den
Weg zu beleuchten, als sie die Stadt hinter sich ließ und
sich in nordöstllicher Richtung von Haven entfernte. Sie
achtete nicht auf das Unterholz um sie herum. Obwohl Kailid keine mächtige Zauberin war, hatte sie Tricks parat, um
sich notfalls in Sicherheit zu bringen. Der Regen machte ihr
nichts aus, denn die Blätter hoch über ihrem Kopf bildeten
ein dichtes Dach.
Der Pfad wurde steiniger und schmaler, denn je weiter
sie lief, desto weniger war er ausgetreten. Er führte in den
Düsterwald, wohin sich selten jemand wagte.
Die Nähe des Düsterwalds und sein erschreckender Ruf
waren aus Kai-lid Entenakas Sicht ideal für ihre Einsiedlerei. Einmal pro Woche wanderte sie die zwei Meilen von
ihrer Höhle nach Haven, um die Kräuter zu verkaufen, die
sie sammelte, oder Sachen zu besorgen, die sie brauchte.
Sie war anspruchslos.
Kai-lid führte ein ruhiges Leben am Waldrand. Für die
zahlreichen Waldbewohner war sie keine Gefahr, und diese
Unschuld garantierte ihrer Meinung nach ihre Sicherheit.
Als sie ankam, hatten die Bewohner des dunklen Waldes
sich zurückgehalten. Sie hatte gespürt, daß sie da waren,
doch sie hatten sich nicht gezeigt.
Natürlich hörte sie Geschichten von den wohlmeinenden
– oder einfach nur neugierigen – Bürgern von Haven, mit
denen sie Handel trieb.
»Da leben Seelen von Rittern, die Hunderte von Jahren
vor der Umwälzung in diesen Wäldern kämpften und starben!« hatte ihr ein Schuster geraten, als er herausgefunden
hatte, wo Kai-lid wohnte. »Und Wesen, die weder tot noch
lebendig sind, aber ihr Geheul kann einen in den Wahnsinn
treiben. Zieh in die Stadt, Frau!«
Seine Finger waren aufgeregt über einen von Kais Sandalen geglitten, den er gerade geflickt hatte. Der Mann hatte
immer mehr von den Geschöpfen des Düsterwalds erzählt.
Kai-lid zweifelte nicht daran, daß an seinen Worten viel
Wahres dran war. Manchmal, wenn sie den Wald betrat,
um Kräuter oder andere nützliche Zauberzutaten zu sammeln, kam es ihr so vor, als ob die Bäume nicht genau da
stehen würden, wo sie bei früheren Streifzügen gestanden
hatten. Gelegentlich hörte sie Fetzen von wilden Liedern –
wie Todesschreie der Steppenvölker –, die der Wind herantrug. Und in manchen Nächten kamen Hufschläge gerade
außer Sichtweite von Kai-lids Höhle zum Stehen.
»Ich fürchte mich nicht vor den Toten. Von Lebenden
habe ich Schlimmeres gesehen«, hatte sie zu dem Schuster
gesagt. Ihre blauen Augen waren lila geworden, und der
Zweifler war schlau genug gewesen, das Thema zu wechseln.
Kai-lid wußte, daß der Mann entsetzt gewesen wäre,
wenn er er fa hren hätte, daß sie sich noch nicht einmal die
Mühe gemacht hatte, ihr Heim – eine Höhle aus grauem
Granit in derselben Farbe wie ihre Wollrobe – mit einer Tür
auszustatten. Nur ein Vorhang aus Qua l inesti-Seide bedeckte die Öffnung, und dieser Vorhang war normalerweise
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