Der Bund der Illusionisten 1

und werde von ihnen genährt, ich kann das Wasser trinken, und mein Durst wird gelöscht. Aber wenn die Illusionierer entscheiden, dass sie etwas anderes haben wollen, wird der See, den du heute hier siehst, morgen nicht mehr da sein. Die Blätter, die jetzt purpurn sind, könnten in einer Stunde weiß sein, die Straße, die durch dieses Tal führt, könnte zwei Sekunden später nicht mehr existieren– oder sie könnte tausend Jahre lang bestehen bleiben. Wenn sie Musik wollen, wird es Musik geben; wenn sie Stille wollen, werden sie sie bekommen. Aus Höflichkeit entfernen sie die Gebäude um uns herum gewöhnlich nicht ohne Vorwarnung, und sie lassen auch keinen Stuhl verschwinden, der in Gebrauch ist, oder errichten eine Mauer quer über die Straße, die wir gerade entlangreiten.«
    Ich erinnerte mich an die Schemen, die ich glaubte, im tanzenden Sand gesehen zu haben. » Diese Wesen– wo leben sie?«
    Â» Sie sind die Illusion, all das, was du jetzt hier siehst. Es ist unmöglich, sie sich als Geschöpfe, wie wir es sind, vorzustellen, Derya. Sie haben weder unsere Begrenzungen noch unsere Schwächen. Sie brauchen keine Gestalt, um sich zu bewegen, keine Nahrung, um zu überleben, keinen Mund zum Sprechen, keine Augen zum Sehen. Sie gebären nicht und sterben nicht, sie sind einfach. Man findet sie in jeder Krume der Erde unter unseren Füßen, in jedem Blatt an dem Baum da vorn, in jedem Stein in der Mauer und jeder Feder des Vogels.«
    Er sprach fast, als wäre ich nicht da, mit einer Poesie, die von seiner tiefen Liebe zu diesem Ort zeugte. Der Redner kam wieder zum Vorschein. » Unsere kardischen Vorfahren«, sprach er weiter, » haben in den Illusionierern Feinde gesehen, die man fürchten muss, weil sie so viel mehr sind als einfache Karden, weil sie nicht erkennbar sind. Damals konnte man in ganz Kardiastan verstreut Bruchstücke der Illusion finden. Diese Orte waren gefährlich. Die Illusion konnte uns töten und hat uns auch getötet, ohne dass wir auch nur merkten, dass wir gegangen waren. Und dann wurde die erste Magoria geboren. Sie gab ihre Fähigkeit an ihre Kinder und ihre Kindeskinder weiter. Das waren auch eine Art Illusionierer– Menschen, die die Macht hatten, etwas, das nicht existierte, als Wirklichkeit erscheinen zu lassen. Wahrscheinlich schlummert diese Fähigkeit auch in dir und mir, auch wenn wir nicht wissen, wie wir sie benutzen sollen.
    Die Täuschungen, die unsere Vorfahren erschaffen haben, hatten nichts von der– der Festigkeit der Illusion, die du hier siehst, aber sie konnten Illusionen in einem großen Maßstab wirken. Und das taten sie auch. Sie sahen in ihnen eine Kunstform, und diejenigen, die sie erschufen, wurden genauso verehrt, wie die Tyraner ihre Bildhauer verehren. Aber aus irgendwelchen Gründen verwirrte die Fähigkeit der Magori die wahren Illusionierer und verunsicherte sie durch Visionen einer Welt, die vielleicht war, vielleicht auch nicht. Die Fähigkeit wurde zur Waffe der Magori, eine Waffe, die sie gegen die Illusionierer einsetzten, als Strafe für deren täuschende Welt, die für uns so verräterisch und tückisch war. Als dann mehr und mehr Magori geboren wurden, litten die Illusionierer unter unermesslicher Not. Und in ihrer Not– nein, in ihrem Wahnsinn– schadeten sie dem Land und seinen Bewohnern noch mehr. Es war eine Situation, die keiner Seite half. Und es war ein Konflikt, den niemand jemals gewinnen konnte.
    Damals wurde der erste Vertrag zwischen den Illusionierern und den Magori geschlossen, ein Vertrag, der bis heute gilt. Ein Bund, wenn man so will. Schon bald wirst du die Tafeln des Bundes zu sehen bekommen und aufgefordert werden, darauf die Treue zu schwören. Bis dahin genügt es zu sagen, dass die Illusionierer sich als Folge dieses Vertrags hinter die Zitterödnis zurückgezogen haben. Und abgesehen davon wurde der Kontakt mit ihnen auf das Allernötigste beschränkt.«
    Er schwieg jetzt; seine gute Stimmung schwand mehr und mehr.
    Ich drängte ihn weiterzureden. » Aber du bist hergekommen, um in der Illusion zu leben. Zuerst nur du und die anderen Kinder, die zu den Zehn gehörten, mit euren Lehrern; jetzt sieht es so aus, als würden alle Magori hier sein, die herkommen wollen. Ganz zu schweigen von den Karden, die ihr von der Sklaverei befreit habt. Wieso haben diese Illusionierer das