Der Bund der Illusionisten 1
reglos. Als ich nicht sofort zu einer weiteren Erklärung ansetzte, sagte er: » Wirklich interessant, wie Ihr sagt. Nach allem, was ich gehört habe, bitten gewöhnlich die Leute darum, das Orakel sehen zu dürfen, und nicht umgekehrt.«
Ich nickte wieder. » Allerdings. Und soviel ich weiÃ, ist häufig eine beachtliche⦠Spende an den Tempel im Spiel, bevor das Orakel der Bitte nachkommt.«
Er lächelte leicht. » Und Ihr seid nicht gerade für Eure GroÃzügigkeit gegenüber religiösen Kulten bekannt.«
» Nein.«
» Heute war eine Abteilung vom Melete-Tempel an der Tür und hat um eine Spende für das Mondfestival gebeten. Glaubt Ihr, das war Zufall?«
» Wahrscheinlich. Diese Leute kommen schlieÃlich jedes Jahr. Und sie werden auch jedes Jahr enttäuscht. Sie bekommen schon bei den normalen Spendensammlungen genug von mir.« Aber noch während ich sprach, dachte ich darüber nach. Handelte es sich möglicherweise um einen Trick, der mich dazu bringen sollte, meine Spende zu erhöhen? Man zeigt den Ungläubigen die Macht der Prophezeiung, um ihnen danach etwas von ihrem Reichtum abzuzwacken? Hin und wieder hörte ich Geschichten von skrupellosen Tempel-Priesterinnen. Dieser Gedanke war auch nicht verrückter als die Vorstellung, dass das Orakel die Zukunft vorhersagen konnte. Ich will einfach nicht daran glauben , dachte ich. Wenn die Götter sich tatsächlich in das alltägliche Leben einmischten und das Orakel immer die Wahrheit sprach, warum gab es dann Katastrophen wie den Kardischen Aufstand? Oder die Todesfälle bei dem Erdbeben im vergangenen Jahr in Getria, unserer Schwesterstadt in den Bergen? Wir wären gewarnt worden.
» Also, welche Botschaft wollte Euch das Orakel nun übermitteln?« Brands Frage holte meine Gedanken abrupt in die Wirklichkeit zurück.
» Das ist es ja gerade. Es war nicht viel. Lediglich, dass ich eine Reise machen würde, um nach einem Verräter zu suchen, und dass ich erfolgreich sein und als Folge davon belohnt werden würde. In nicht unbeträchtlichem MaÃe.«
» Und stimmt das?«
» Soweit ich weiÃ, ja.«
» Es gab keine Einzelheiten darüber, wie Ihr Euer Opfer ergreifen sollt? Keine nützlichen Hinweise?«
» Nein.«
Er hatte seinen Finger natürlich auf den wunden Punkt gelegt. Das Orakel hatte mir nichts Nützliches verkündetâ wieso war die Nachricht dann so wichtig gewesen?
Ich gab genau wieder, was ich gesehen und gehört hatte, brachte dabei meine eigenen Erinnerungen in eine verständliche Ordnung und lieà die eher ausgefallenen Halluzinationen weg. Als ich Esmes Deutung des Orakels im genauen Wortlaut wiedergab, verwandelte sich sein Lächeln in ein Grinsen. Als Kind hatte Brand mich zu meinen Schulstunden begleitet; inzwischen stand er bei jeder Dichterlesung, jedem Musikabend, jeder Theatervorstellung und akademischen Debatte hinter mir. Er erkannte einen grässlichen Vers sofort, wenn er ihn hörte. » Dann ist das Orakel also ein schlechter Dichter?«
» Der schlechteste überhaupt. Oder Esme ist eine armselige Ãbersetzerin.«
» Sie haben Euch eine rosige Zukunft prophezeit. Ein bisschen, äh, überschwänglich, was die Versprechungen angeht, findet Ihr nicht?«
» Irgendwie ja.« Ich runzelte die Stirn. » Diese ganze Sache ist merkwürdig.«
» Wollt Ihr wissen, wie das auf mich wirkt? Dieses ganze in epischer Dichtkunst vorgetragene Gerede von wegen ⺠rechtmäÃigem Platzâ¹, und dass Ihr gekränzt und gefeiert und geehrt werden sollt? Es ist, als wollten sie sagen: ⺠Ihr bekommt nicht, was Ihr verdient habt. Geht nach Kardiastan, und Ihr werdet Eure Ehrungen bekommen, das und noch viel mehr.â¹ Sie arbeiten mit Eurem Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein.«
Mein Stirnrunzeln vertiefte sich jetzt sogar noch mehr. » Aber ich fühle mich doch gar nicht ungerecht behandelt!«
» Vielleicht glauben sie aber, dass Ihr es tut. Glaubt Ihr an das Orakel, Domina?«
» Als Verbindung zum Göttlichen? Oder bezogen auf die Wahrheit seiner Vorhersagen?«
» Beides.«
» Nun, die Tempelpriesterinnen behaupten, dass die Götter über das Orakel Kontakt mit uns aufnehmen. Aber wenn ein Gott allmächtig ist, wieso braucht er dann einen Vermittler? Wenn wir den Mythen glauben sollen, haben sie in der
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