Der Bund der silbernen Lanze: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Konstruktion bei Gefahr bot. Im Falle eines Angriffs konnten die Bewohner blitzschnell reagieren und sich und ihre Habe schützen, indem sie die Treppe ähnlich einer Zugbrücke hochzogen. Die Angreifer hatten dann keine Chance, in den Turm einzudringen. Auch den Fenstern, die das massive Mauerwerk allesamt als winzig kleine Öffnungen durchbrachen – wenn man von den vier halbrund gemauerten Fenstern nach Süden hin einmal absah – , kam eine Verteidigungsfunktion zu.
Womöglich befand Laetitia sich bloß einige Fußlängen von dem Ort entfernt, an dem sich das entscheidende Ereignis zugetragen hatte, auf das Burkhard ihre Aufmerksamkeit lenken wollte. Nichts an der Vorstellung war beruhigend, im Gegenteil. Was konnte es mit dem Turm auf sich haben, dass er dem Sterbenden sein allerletztes Wort wert war? Im nächsten Moment überkam sie eine Welle des Zweifels. Keine voreiligen Schlüsse. Sie durfte sich nicht dazu hinreißen lassen, sich aufgrund vager Vermutungen auf eine falsche Fährte zu begeben. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass der alte Mann einen anderen der befestigten Wohntürme der Stadt gemeint hatte oder aber den Dom. Laetitias forschender Blick wanderte an der Ludolf’schen Mauer entlang, über der sich die beiden viereckigen Türme des Doms, die jeweils von halbrunden kleineren Türmen flankiert wurden, würdevoll erhoben. Waren sie es, von denen Burkhard gesprochen hatte? Wenn sie doch eine Antwort auf diese Frage fände. Seufzend strich sie sich über die Augen, als ob ein Schleier ihr die klare Sicht auf die Dinge vernebelte.
Die Sub Posterna, der Torbogen, welcher sich über die vom Hauptmarkt zum Domareal führende Sternstraße spannte, war noch geschlossen, aber überall herrschte bereits reges Treiben. Kaufleute, die mit fliegenden Händen ihre Ware ausbreiteten, wetteiferten in prahlerischem Geschreie. Lautstark priesen sie die Vorzüge ihrer Ware an, als wollten sie allein mit ihrer Stimme jeden Konkurrenten verjagen. Erste Kaufwillige wurden mit dienstfertigem Lächeln begrüßt. Während es an einem Karren nach in Fett gebackenen Küchlein roch, stieg Laetitia am nächsten der süße Duft von Honig in die Nase. Aufregend, in einer Ecke feuerten rotgesichtige Männer Hähne beim Kampf an; anderswo bestaunte man eine Gruppe von Gauklern, die im Rhythmus beschwingter Musik ihre Keulen kunstvoll durch die Luft warfen. Für derlei Zeitvertreib blieb Laetitia heute allerdings keine Zeit, sie hatte Wichtigeres vor. Bald würde die Anhörung beginnen und sie wollte alles daran setzen, der Katharerin Margund bei ihrer Verteidigung zu helfen.
Laetitia konnte noch immer kaum fassen, was Karolina mit Edgar von Falkensteins Unterstützung gelungen war: Sie hatte tatsächlich erreicht, dass man Laetitia bei der Anhörung als Fürsprech zuließ. Und das, obwohl sie bloß eine junge Frau war. Sehen hatte sie Margund noch nicht dürfen. Mit sturer Miene hatte ihr der Gefangenenwärter, dem sie ihr Anliegen mit allerlei Überredungskunst vorgetragen hatte, den Zugang zum Kerker verwehrt. Misslungen waren auch ihre bisherigen Versuche, an die Hure Brigitta heranzukommen. Inhaltliches zur Verteidigung Margunds konnte sie demgemäß noch nicht vorbringen, wohl aber zeigen, dass sie dem Mädchen zur Seite stand. Vor allem musste sie Zeit herausschinden, damit sie eine Chance bekam, mithilfe von Brigittas Aussage den wahren Mörder zu finden.
Vor dem ehemaligen Zehnthaus angelangt hielt Laetitia inne und wischte sich die Hände, an deren Innenfläche sich Schweiß gebildet hatte, an ihrem Gewand ab. Hoffentlich waren keine Schaulustigen gekommen, sodass sie Gelegenheit fand, in Ruhe ein Wort mit Bruder Wilhelm zu wechseln. Der Erzbischof hatte den aus der Grafschaft Anjou stammenden Geistlichen, der seit acht Jahren in Trier weilte, mit der Leitung der Anhörung betraut. Karolina schien ihm höchsten Respekt entgegenzubringen, denn sie hatte auf die Nachricht, dass Wilhelm sich für diese Funktion anerboten hatte, mit Erleichterung reagiert.
Laetitias Blick wanderte an der Fassade des ehemaligen Zehnthauses empor. Ob Karolina recht hatte? War der Ort für die Anhörung mit Hintergedanken gewählt worden, um eine negative Stimmung gegen die Katharerin zu schüren? Obwohl das Gebäude für seinen ursprünglichen Zweck nicht mehr gebraucht wurde und seit Langem leer stand, war dem alten Zehnthaus mehr als jedem anderen Ort die Ablehnung der Trierer Bürger und Bauern gewiss. Kein Wunder: Wen
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