Der Bund der silbernen Lanze: Historischer Kriminalroman (German Edition)
versoffenen Bruder Anselm, der sich beim Altport herumtreibt.
»Altport?«
»Ja, so nennen wir den Stadtzugang im Südosten, den wir während der Fehde als Torburg nutzten. Es ist ein uralter Römerbau, der aus Zeiten Kaiser Konstantins stammt und den wir in die Befestigungsmauer integriert haben.«
Kapitel 6
Der gesamte Tag war trüb und nass gewesen. Am Abend des 26. Oktober war die Erde vom Regen aufgeweicht und an vielen Stellen des Weges hatte sich das Wasser in Pfützen gesammelt, in denen sich Laetitia nasse Füße holte. Noch dazu spritzte sie ein über die Steine holpernder Wagen, auf dem sich Weinfässer türmten, bis zu den Knien mit Matsch voll, aber das kümmerte sie wenig. Wie von einer unheimlichen Gewalt getrieben, eilte sie entlang der neuen Stadtmauer in östlicher Richtung auf das Altport zu. Laetitias Finger krampften sich um den Dolch, den sie sich für den Fall der Fälle an den Gürtel gesteckt hatte. Hoffentlich würde sie Brigitta am Altport vorfinden. Dass die Hure das Gesicht des Schurken gesehen hatte, bezweifelte Laetitia keine Sekunde. Ob sie ihm zuvor schon einmal begegnet war und seinen Namen kannte? Zumindest aber wäre sie imstande, sein Äußeres zu beschreiben. Mit etwas Glück würde diese leidige Geschichte bald ein Ende finden und sie könnte in den Schutz ihres Klosters zurück, sagte sich Laetitia voller Zuversicht. Zwar ohne die Briefe, die die Äbtissin herbeisehnte, aber wenigstens kehrte sie in die frühere Geborgenheit heim. Ihre Finger verkrampften sich. Die Enttäuschung darüber, dass sie diese große Chance vertan hatte, Äbtissin Heloïse ein wenig von all dem Guten zu vergelten, das sie seit Mutters Tod für sie getan hatte, schmerzte wie ein Brandmal.
Zwischen den Wolkenfetzen, die über den Himmel rasten, blinkten immer wieder Sterne auf, doch setzten sie sich nicht gegen die Finsternis durch. Laetitia hatte die letzten Häuser hinter sich gelassen und zog die Kapuze fester ins Gesicht. Auf der ungeschützten Fläche stemmte sie sich gegen den heftigen Wind, der die Äste der Bäume schüttelte, die sich ächzend unter seiner Kraft bogen. Glücklicherweise war es nicht mehr weit. Vor sich sah Laetitia bereits die Silhouette der Kirche Sankt Gervasius, die sich wie ein Versprechen auf Klarheit in dieser mysteriösen Sache von der Erde abhob.
Wie Karolina ihr erklärt hatte, war Sankt Gervasius auf den Fundamenten der ehemaligen Palaestra des römischen Kaisers Konstantin errichtet. Dort hatten sich die Menschen zu alten Zeiten mit Ballspielen, Laufen und Springen vergnügt. Obwohl die gewölbten Mauern längst eingestürzt waren, verrieten noch erhaltene Fundamente die riesigen Ausmaße einer römischen Bäderanlage, die sich einst an die Palaestra anschloss. In der Bibliothek des Stifts verwahrte man alte Aufzeichnungen davon, gemäß derer sie breite Becken für Kalt- und Warmbäder in mit farbigem Putz und Marmor versehen Hallen umfasste. Laetitia schüttelte lächelnd den Kopf. In welche Narreteien die Menschen zu Zeiten Konstantins sich verstiegen hatten: Vertaten ihre Zeit mit unnützen Ballspielen und suhlten sich halb nackt auf sündige Weise in gewärmtem Wasser!
Laetitia, an deren Gewand der pfeifende Wind immer heftiger zerrte, drehte sich einmal um ihre Achse. Sie war völlig allein hier draußen, was zu so später Stunde nicht verwunderlich war. Der Mond, der mittlerweile hoch am Himmelsgewölbe aufgestiegen war und über die fliegenden Wolken immer mehr die Oberhand gewann, tauchte das Caldarium, das den Abschluss des ehemaligen Thermalbads bildete, in silbriges Licht. Die doppelreihigen Sandsteinbögen, die bei Tage in warmem, hellem Rot leuchteten, warfen finstere Schatten, als ob sie die Eingänge in tiefer liegende Höhlen bildeten. Laetitia wurde mulmig. Sie nahm all ihren Mut zusammen, um weiter auf das Caldarium zuzugehen, in dessen Überresten sich zwei Achsen der Trierer Befestigungsmauer vereinigten, die das mächtige Altport einfassten. Wie ein steinerner Riese bewachte es Trier argwöhnisch.
Um diese Zeit würde das Tor natürlich geschlossen sein. Laetitias Schritt verlangsamte sich und schließlich blieb sie bei einer Weide stehen, deren windschiefer Stamm sich weit in den Schatten des Gemäuers lehnte. Dort lag alles gespenstisch still. Hier hatte der Wind keine Chance und Laetitia hörte einzig das Rauschen des Olewigbaches, der in den stadteinwärts laufenden Weberbach einmündete. Sie streifte die Kapuze vom Kopf,
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