Der Bund der silbernen Lanze: Historischer Kriminalroman (German Edition)
»Wo bin ich, wie bin ich hergekommen?«, brachte sie schwerzüngig hervor, während sie mit der Rechten über ihren Kopfverband tastete. Benommen schaute sie sich in dem Raum um: Körbchen und etikettierte Tonbehältnisse füllten Holzregale bis zur Decke hinauf. In einem wüsten Durcheinander türmten sich Beutel mit Hagebutten, Blättern und Knollen auf einem länglichen Tisch. Dies musste das Infirmarium sein.
Noch bevor Karolina antworten konnte, schimmerten Laetitia zusammenhanglose Bilder durch den Kopf: Das leuchtend rote Haar von Brigitta, die eiskalte Klinge an ihrer Kehle, Sebastian. Ein heftiger Schlag und danach Schwärze. Die Erinnerung gewann wie aus grauem Dunst heraufdämmernd mehr und mehr Farbe. Mit einem Male wach wie der helle Tag fuhr Laetitia hoch. »Hat man Brigitta geschnappt? Wo hat man sie hingebracht? Sie muss uns sofort verraten, was sie in der Mordnacht beobachtet hat.«
»Ruhig, nur ruhig, alles wird gut«, antwortete Karolina. »Ihr habt großes Glück gehabt. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn Sebastian nicht Euer unvernünftiges Vorhaben geahnt hätte. Gott sei Dank war er zur Stelle, um Euch vor dieser verruchten Person zu retten. Er trug Euch ohnmächtig zu mir, damit ich Eure Wunde versorgen kann.«
Erst jetzt bemerkte Laetitia Sebastian, der lässig an der Tür lehnte. Seine Augen blickten wach und stolz wie üblich, auf seinen Lippen fand sich ein Lächeln ein. Dennoch kam er ihr verändert vor, was sie aber nicht auf die blutverklebte Wunde zurückführte, die seine Schläfe überzog. Vielmehr erstaunte sie der Mangel an Entschlossenheit in seinen Schritten, als er in linkischer Manier zu ihrem Lager trat, während Karolina Anstalten machte, den Raum zu verlassen.
»Zehn Minuten, spätestens dann seid Ihr verschwunden. Wenn die Äbtissin bemerkt, dass ich einen Mann ins Infirmarium gelassen habe, gerate ich in Teufels Küche.«
»Kein Problem, ich werde mich kurzfassen«, versprach Sebastian mit einem Kopfnicken und ließ sich auf dem Rand eines Schemels nieder. Nach Sekunden peinlichen Schweigens sagte er heiser: »Gott sei Dank seid Ihr wieder bei Bewusstsein. Wir hatten nicht wenig Sorge. Wie fühlt Ihr Euch?«
Laetitia hingegen dachte gar nicht daran, die Zeit mit Geschwätz über ihre Wunden und ihr Befinden zu vertun. »Wo ist Brigitta?«, wollte sie stattdessen wissen, während sie sich unter Schmerzen aufrichtete und den Rücken gegen die Wand lehnte. Das Lächeln auf Sebastians Lippen verblasste und seine Miene verfinsterte sich. Noch bevor er einen Versuch unternehmen konnte, ihre Frage zu beantworten, schleuderte Laetitia ihm aufgebracht entgegen: »Sagt, dass es nicht wahr ist! Ihr wollt nicht ernsthaft behaupten, dass Brigitta entwischt ist!«
»Nun beruhigt Euch doch!«, bemühte sich Sebastian, sie zu besänftigen.
Aber Laetitia beruhigte sich nicht, im Gegenteil. Voller Enttäuschung musste sie erkennen, dass das Schlimmste eingetreten war: Die einzige Zeugin, die etwas Licht in die Umstände um das schreckliche Verbrechen bringen konnte, hatte sich davongemacht.
»Jetzt ist alles verloren! Wieso habt Ihr das nicht verhindert!« Kaum hatte sie den Satz beendet, erhob sich Sebastian energisch von seinem Schemel. In einem Korb klirrten Tonbehältnisse, als der Schemel dagegen stieß. Ärger, der ihm ins Gesicht geschrieben stand, deutete auf eine äußerst unflätige Antwort, die er auf den Lippen zu haben schien, doch was er sprach, war reiner Spott: »Nein, Ihr braucht Euch nicht überschwänglich bei mir zu bedanken. War ja nicht der Rede wert, dass ich Euch gerettet habe. Obschon ich dabei hätte draufgehen können. Nein, nein, dankt mir nicht!«
Laetitia verdrehte die Augen. »Das will ich ja gar nicht in Abrede bringen, entschuldigt bitte. Natürlich bin Euch dankbar dafür, dass Ihr mich beschützt habt«, lenkte sie ein. »Andererseits, versetzt Euch einfach einmal in meine Lage. Ich bin furchtbar enttäuscht, dass Brigitta auf und davon ist. Als ich zum Altport lief, hatte ich mir größte Hoffnungen auf ihre Aussage gemacht – eine Aussage, die womöglich die Antwort auf alle Fragen brächte!«
Ein jäher Schmerz durchfuhr sie. Sie stöhnte auf und fasste sich an den Hinterkopf. Schier zerspringen wollte ihr der Schädel. Sebastian jedoch zeigte nicht den geringsten Anflug von Mitgefühl. Noch immer kochte er vor Verärgerung.
»Hoffnungen auf die Aussage Brigittas?«, fragte er, die Hände in die Seiten gestützt. »Ihr glaubt doch nicht
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