Der Bund der silbernen Lanze: Historischer Kriminalroman (German Edition)
können? Niemand konnte durch die winzigen Fenster klettern und der einzigen Tür, die es gab, hatte bis auf wenige Minuten ihre eigene, feste Aufmerksamkeit gegolten. Das Schloss wirkte unversehrt und Wilhelm schwor, dass es nur einen einzigen Schlüssel gab. Niemand hatte sich Zutritt zu diesem verriegelten Raum verschaffen können, zumindest niemand aus Fleisch und Blut. Noch bevor sie den Gedanken vollendet hatte, überfiel Laetitia mit aller Schärfe der Verdacht, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen war. Nun erfuhren auch die schreckensstarren Mienen der Wachleute, die gewiss nicht zum ersten Mal eine Tote zu sehen bekamen, eine weitaus schlimmere Deutung als zuvor. Nicht der Leichenfund selbst lehrte die Männer das Fürchten, sondern die unerschütterliche Gewissheit, dass bei der Tötung der Hure übernatürliche Kräfte gewirkt hatten. Laetitia empfand unbändigen Widerwillen bei dieser Vorstellung, doch bot sich keine andere Erklärung. Entweder hatte der Allmächtige Brigittas sündige Seele gestraft oder aber – Gott behüte – höllische Dämonen waren am Werke gewesen. Eine nie gekannte Angst ergriff von Laetitia Besitz. Sie zeichnete ein Kreuz auf ihrer Brust, während Rupert und Wilhelm aufeinander einzufaseln begannen.
Sebastian, über dessen Lippen keine einzige Silbe kam, maß den Templer misstrauisch. Die auf dem Boden liegende Leiche jedoch streiften seine Augen nur kurz, ohne dass der winzigste Muskel in seinem Gesicht sich rührte oder irgendetwas über seine Empfindungen verraten hätte. Dann beugte er sich zu Laetitia herab, packte sie bei den Schultern, zog sie vom Boden hoch und half ihr, sich auf den einzigen Stuhl im Raum zu setzen. Sie fühlte sich noch immer elend. Während sie sich mit den Händen Luft zufächelte, bückte sich Sebastian erneut. Er schien etwas Interessantes entdeckt zu haben, das er mit der Rechten aufnahm und sich nun ganz dicht vor die Augen hielt. Die Lider zusammengekniffen, betrachtete er einen getrockneten Zweig mit mehreren, dicht aneinander gewachsenen roten Blüten, die ihm zwischen den Fingern zerfaserten.
»Nicht!«, zischte Laetitia. Obwohl ihr die Knie noch immer wankten, sprang sie auf, schlug Sebastian heftig auf die Finger und das keinen Moment zu früh, denn gerade wollte er seine Hand zu Mund und Nase führen, wohl um an der Blüte zu riechen. »Das ist eine Blüte des roten Fingerhuts und schon zwei Blätter davon reichen aus, um einen Menschen zu töten!«
Sebastian erschrak und wischte sich die Hand am Wams ab. »Seltsam, was hatte Brigitta mit den giftigen Blüten vor? Oder hat der Mörder sie bei sich gehabt und verloren, als er Brigitta überwältigte?«
Erleichtert, drohendes Unheil abgewandt zu haben, glitt Laetitia auf den Stuhl zurück und zuckte die Achseln. Hier war etwas nicht geheuer und die Frage, von wem die giftigen Blüten stammten, bereitete ihr nun weiß Gott die geringste Sorge. Noch einmal schielte sie zu Decke und Fenstern, bevor Sebastian sie am Arm fasste, um sie aus der Kammer zu führen. Sie leistete keinerlei Widerstand, auch wenn sie zu gerne gewusst hätte, wie Wilhelm oder Rupert das Geschehene kommentierten. An diesem unheimlichen Ort zu bleiben, der ihr wie eine von Schattengestalten beherrschte Welt vorkam, verspürte sie nicht die geringste Lust. Je eher sie von hier fortkam, umso besser.
Kaum hatte sich die Tür der bischöflichen Residenz hinter Sebastian und ihr geschlossen, spürte Laetitia auf Stirn und Wangen weichen Dunst, der vom regennassen Boden aufstieg. Normalerweise hätte sie die Feuchtigkeit als unangenehm empfunden. Jetzt hingegen hieß sie sie willkommen, mehr als willkommen. Jegliche Sinneswahrnehmung bewies, dass die natürliche Welt sie endlich wieder hatte und der schreckliche Spuk in den Mauern des erzbischöflichen Palastes zurückblieb.
»Mir ist angst und bange«, sagte sie, »bedenkt nur, welche Mächte hier am Werk waren. Die einzige Zeugin, auf der Margunds Hoffnung lag, ist tot. Ich sage Euch: Das ist eine Botschaft, eine göttliche Botschaft dafür, dass wir die Finger von der Sache lassen sollen! Oder noch schlimmer: Es ist ein Zeichen der Hölle!«
»Ach ja?«, gab Sebastian voller Eifer zurück. An die Stelle des Trostes trat Verärgerung in seine Stimme. »Was bitte sollte Gott denn dagegen haben, dass wir eine Augenzeugin wegen eines Mordes befragen? Und erzählt mir nichts von Höllenzeichen – ich bin kein Freund von solcherlei Geschwätz.«
»Schon,
Weitere Kostenlose Bücher