Der Bund der silbernen Lanze: Historischer Kriminalroman (German Edition)
aus einer Truhe vom Dachstuhl des Stifts geholt hatte. Etwas mehr Schlichtheit hätte wohlgetan. Über Laetitias Hals breitete sich bis zu den Schlüsselbeinen eine flammende Röte aus, während sie mit unsicherem Schritt dicht hinter der Nonne auf die ihnen zugewiesenen Plätze an einem Seitentisch zuging. Er war für sechs Personen eingedeckt, man erwartete somit noch vier weitere Gäste.
Dankbar ließ Laetitia sich auf den Stuhl gleiten, der ihr wie das rettende Ufer nach dem Durchschwimmen einer gefährlichen Furt erschien. Unter erleichtertem Aufatmen bestätigte sich ihre Hoffnung, dass die anderen Gäste sich langsam wieder dem jeweiligen Tischnachbarn widmeten. Laetitias Unbehagen nahm ab, obwohl es sich nicht ganz verlieren wollte. Ihr Blick flatterte über die Gesichter im Saal, von denen sie das ein oder andere von der Anhörung im Zehnthaus kannte. Abscheu erfasste sie. Zu genau wusste sie, wie rasch sich die Mienen der Menschen, die jetzt freundlich lächelten, in sensationslüsterne Fratzen verwandeln konnten. Schließlich widmete sie ihre Aufmerksamkeit dem Erzbischof, der seinen Platz gleich zur Rechten von Sebastians Vater an der Haupttafel eingenommen hatte. Albero stand im Ruf, sich hervorragend auf das Führen geistreicher, amüsanter Reden zu verstehen. Auch den Gaumengenüssen war er nicht abgetan, was mit dem Voranschreiten der Jahre in einer gewissen Leibesfülle gemündet war.
Endlich trafen die letzten Gäste ein, unter ihnen diejenigen, welche aus Laetitias Perspektive die höchste Bedeutung zukam: Wilhelm und Rupert. Ihr Puls beschleunigte sich. Einen Moment blieb Wilhelm im Türrahmen stehen, als ob ihn das festliche Licht des Saales blendete. Dann folgte er einem ältlichen Diener, der ihn schlurfenden Schritts zum Tisch geleitete. Er zog noch immer das Bein nach. Rupert schloss sich Wilhelm an. Beide grüßten höflich und nahmen gegenüber von Laetitia Platz. Das hatte Sebastian hervorragend arrangiert! Nachdem er sich zu ihrer Linken gesetzt hatte, war nun nur noch der Stuhl zu ihrer Rechten frei.
Edgar von Falkenstein klatschte kaum hörbar in die Hände und sah den Mundschenk auffordernd an. Daraufhin wurde der Wein gereicht. Eine Reihe von Dienern erschien, die auf riesengroßen hölzernen Platten in Honig gedünstete Tauben, gespickten Hasenrücken und am Spieß gebratenes Wildschweinfleisch auftrugen. Der Gastgeber nickte den Leuten zu, um sie zu ermuntern, Speis und Trank reichlich zuzusprechen. Dies fiel kaum jemandem schwer, denn das Essen duftete und schmeckte köstlich. Nur Laetitia bekam kaum einen Bissen hinunter, denn soeben stolperte der noch fehlende Gast herein, bei dem es sich um niemand anders als Gerwin handelte. Er fand seinen Platz – wie könnte es anders sein – natürlich gleich neben ihr. Sein Eintreffen als solches erstaunte Laetitia nicht wirklich, nachdem Sebastian schon bei dem Abenteuer in der erzbischöflichen Bibliothek das Fest seines Vaters als Ablenkungsmanöver benutzt hatte. Doch dass er den Kerl ausgerechnet genau neben ihr platzierte, hielt sie für genial. Spätestens seitdem sie Gerwin im Waldstück nach Sankt Matthias im Rücken gehabt hatte, würde sie Stein und Bein darauf schwören, dass er ihr nachspionierte. Mit der ausgefallenen Tischordnung hatte Sebastian zwar gegen alle üblichen Regeln verstoßen, aber ideale Voraussetzungen für sie beide geschaffen, gleich zwei Männer auszuhorchen, denen sie misstrauten. Dennoch brachte Laetitia vor Anspannung kaum ein Wort über die Lippen. Glücklicherweise zog Sebastian, der sie noch immer keines Blickes würdigte, obwohl er zu ihrer Linken saß, die Aufmerksamkeit aller Gäste des Tischs auf sich. Nachdem er in vollendeter Höflichkeit den Becher erhoben und jedem in der Runde zugenickt hatte, eröffnete er die Konversation in leichtem Plauderton. »Man spricht davon, dass der Erzbischof bald schon seine Entscheidung darüber bekannt geben wird, wen er als Prokurator der Matthiaspilgerschaft einzusetzen gedenkt.«
Gemurmel setzte ein, unter das sich der ein oder andere zustimmende Kommentar mischte, und die Augen hefteten sich auf Wilhelm. Obwohl er so tat, als wäre nicht von ihm die Rede, entging Laetitia nicht, dass ihm durchaus angenehm war, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken.
»Und schon jetzt pfeifen die Spatzen von den Dächern, dass niemand Geringerem diese Ehre zuteil wird als Euch!«, fuhr Sebastian fort und lächelte Wilhelm einschmeichelnd zu. Mit geradezu
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