Der Bund des Raben 02 - Jäger des Feuers
zuzuschauen. Delyr und Sapon umrundeten das Feld mit den Stäben und ließen am Ende jeder Linie einen Pfahl zurück. Dann marschierten die Magier rasch zum Fuß der Pyramide und knieten vor der Markierung für den Schatten nieder. Es war ein langer Stab aus poliertem Holz, der dort, wo die Ostmauer der Pyramide den Boden berührte, befestigt war. Sobald der letzte Rest des natürlichen Schattens verschwunden war, wollten sie mit den Messungen beginnen.
Das System funktionierte zwar, doch nach Jayashs Ansicht hatte es einen Fehler. Im Augenblick war der Schatten relativ klein, und die Pyramide war nahe. Die Bewegung der Sonne zwischen dem Zeitpunkt, zu dem es nach Ansicht der Magier Mittag war, und der Messung des Schattens konnte vernachlässigt werden. Doch bald würde die Pyramide vom Schatten des Risses bedeckt sein, und dann musste man die Mittagsstunde an einem weiter entfernten Ort bestimmen. Außerdem dauerte die Messung des Schattens länger, je größer er wurde.
Er konnte schon den Zeitpunkt kommen sehen, an dem
alle seine Männer damit beschäftigt waren, bei den Messungen zu helfen, statt sich um die Absicherung zu kümmern, und noch später würde eine hoffnungslos ungenaue Messung dem Raben eine Fehlerbandbreite zumuten, die nach Tagen gezählt werden musste. Delyr schien dies alles nicht zu kümmern. Er dachte als Einziger, er könne einfach nach Hause gehen, sobald das Wachstum des Schattens mit genügender Genauigkeit ermittelt war.
Ihm war nicht klar, dass er für die Rolle des Märtyrers und nicht etwa für die des Helden ausgewählt worden war.
Es war Mittag. Delyr und Sapon richteten sich auf und kehrten rasch zu den Stangen zurück. Der Riss hing drohend in der Luft, der Schatten war breit und hatte einen scharfen, gut erkennbaren Rand, weil er nicht von Wolkenbänken verdeckt wurde.
Schnell und ohne sich noch einmal abstimmen zu müssen, stellten sich die beiden Magier einander gegenüber im Norden und Süden auf und begannen mit ihrer Arbeit. Sie beugten sich über den Boden und bestimmten das genaue Ende des Schattens und den Beginn des Sonnenlichts. Als sie zufrieden waren, setzten sie neue Stäbe auf die Markierungen und schlugen sie mit kleinen Eisenhämmern ins Pflaster des Platzes. Dann gingen sie gegen den Uhrzeigersinn weiter und wiederholten den Vorgang nach weniger als fünf Minuten.
Jayash bemerkte sofort das Entsetzen der Magier; er sah den besorgten Blickwechsel der beiden und ging zu ihnen hinüber. Delyr und Sapon trafen sich am Südrand und maßen die Entfernung zwischen dem heutigen und dem Stab des gestrigen Tages mit einem markierten Seil und einem geschnitzten geraden Stock, auf dem sie zwei Markierungen anbrachten. Auf diese Weise nahmen sie von drei Punkten die Maße ab, dann konsultierte Delyr ein Pergament,
das er aus einer am Boden liegenden Tasche geholt hatte.
»Was ist denn los?«, fragte Jayash, doch er wusste die Antwort bereits.
»Einen Moment«, sagte Delyr. Er und Sapon kritzelten etwas aufs Pergament, maßen noch einmal und trugen die Zahlen im Logbuch ein. Delyr schaute auf.
»Eine erste Einschätzung?«, forderte Jayash.
»Wir haben ein großes Problem.«
»Begründung?«
»Wir prüfen es morgen noch einmal nach, aber die Geschwindigkeit, mit welcher der Schatten wächst, nimmt zu. Er ist nicht stabil, oder es scheint zumindest so.«
»Was bedeutet das?«
»Es bedeutet, dass das Loch umso schneller wächst, je größer es wird.«
Jayash drückte die Zunge von innen gegen die Wange. »Dann ist der Zeitraum also kürzer, als Ihr es ursprünglich berechnet habt.«
»Ja, erheblich kürzer«, sagte Delyr. »Und wir können nicht einmal sagen, ob das Wachstum sich noch weiter beschleunigen wird. Ich vermute es allerdings.«
»Wie lautet dann die neue Schätzung?«
»Ja, Moment …« Delyr wandte sich an Sapon, der wie besessen geschrieben hatte. Jetzt unterstrich er eine Zahl auf dem Pergament und gab es Delyr, der die Augen aufriss.
»Seid Ihr sicher?«, fragte er.
»Ja.« Sapon nickte. »Ich werde es später genauer ausarbeiten, aber dies dürfte schon recht präzise sein.«
»Nun, bisher sind wir davon ausgegangen, dass der Riss in dreißig Tagen Parve bedecken wird. Jetzt bleiben uns noch acht.«
Jayash sagte nichts, er starrte nur den Riss am Himmel an, schauderte und stellte sich vor, wie die Drachen herabstießen.
Es war die längste Nacht in Ilkars Leben. Der Unbekannte und Denser hielten einen geraden Kurs quer über die
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