Der Bund des Raben 03 - Kind der Dunkelheit
reden nicht mehr mit mir.«
»Oh, ich bin sicher, dass das nicht stimmt«, ermahnte Erienne sie sanft. »Komm schon, ich zeige dir, dass sie immer noch deine Freunde sind.«
»Können wir dann rausgehen und auf Papi warten?«, fragte Lyanna. »Ich habe eine ganz besondere Stelle, wo ich immer stehe und aufpasse. Ich habe jeden Tag auf dich gewartet.«
»Danke, Liebes«, sagte Erienne. »Das hat mir geholfen, früher zurückzukommen.«
Nur widerstrebend ließ Lyanna sich ins Haus führen. Erienne wanderte über die nassen Dielen, ging an leeren klappernden Fenstern, zersprungenen Vasen, zerbrochen Bildern, zerfetzten Teppichen und Wandbehängen vorbei, und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Lyanna nahm die Zerstörungen anscheinend überhaupt nicht wahr und schwatzte unbeschwert über ihre Freunde
im Obstgarten und die schöne Suppe, die sie zum Mittagessen bekommen hatte.
Sie wurden langsamer, als sie sich den Räumen der Al-Drechar näherten. Erienne fürchtete schon, das einzige Geräusch im Haus sei das Pfeifen des Windes in den leeren Fenstern und den Löchern im Dach, und machte sich auf das Schlimmste gefasst, als sie die Tür zu ihrem Flur öffnete. Niemand stand dort als Wache, niemand wartete. Sie musste nicht einmal in die Zimmer schauen, sie wusste auch so, dass sie leer waren.
Erienne hob Lyanna auf und eilte zum Ballsaal. Wider alle Vernunft hoffte sie, die Al-Drechar im Esszimmer beim Pfeiferauchen vorzufinden. Lyanna sah sich über die Schulter um. Sie wehrte sich nicht, als sie getragen wurde, zappelte aber unbehaglich, als Erienne die Tür des Ballsaales öffnete und die großen Lüster anschaute, die wie alte, bleiche Tierskelette auf dem rissigen Boden lagen.
»Wer ist der Mann da, Mama?«
Erienne fuhr herum, und Lyanna wand sich in ihren Armen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.
»Ilkar, den Göttern sei Dank. Lyanna, das ist einer von Mamis und Papis Freunden. Er wird uns helfen. Willst du nicht Hallo sagen?«
Lyanna schüttelte den Kopf und wandte sich halb ab.
»Schon gut.« Ilkar kam zu ihnen getrabt. »Bei den fallenden Göttern, ist das ein Durcheinander hier. Was, zum Teufel, ist hier bloß passiert?«
Erienne wies mit einem Nicken auf ihre Tochter. »Rate mal«, sagte sie. »Hör mal, ich kann hier niemanden finden. Eigentlich sollten hier überall Elfen der Gilde sein, und hier leben auch vier Al-Drechar. Doch das Haus fühlt sich an wie eine Leichenkammer. Komm doch mit, ja? Es läuft mir hier kalt den Rücken herunter.«
Ilkar lächelte. »Wo geht es lang?«
Erienne übernahm die Führung und lief durch den Ballsaal zum Esszimmer. Ihre Schritte machten feuchte, schmatzende Geräusche. Im Dach war ein Loch von der Größe eines Marktkarrens; der Stuck war heruntergebrochen und lag in großen Stücken auf dem Boden. Sie achtete kaum darauf und beherrschte sich, um nicht einfach loszurennen, als sie sich dem Ort ihrer letzten Hoffnung näherte. Sie packte den Türgriff mit der freien Hand und stieß die Tür auf.
»Oh, nein«, sagte sie. Stolpernd blieb sie stehen und legte sich eine Hand auf die Nase und den Mund. Lyanna wand sich in ihren Armen und gab einen angeekelten Laut von sich.
Ilkar trat neben sie. Erienne konnte hören, wie er sich bemühte, nicht zu würgen.
»Erienne, bringe Lyanna fort. Ich werde sehen, was ich hier tun kann.« Mit seinen starken Armen drehte er sie zu sich herum. »Hör mal, Denser wird in ein oder zwei Stunden hier sein. Du musst jetzt versuchen, Lyanna zu überreden, den Leuchtturm abzuschalten. Die Dordovaner sind nicht mehr weit entfernt, und dieses Ding lockt sie an wie eine Lampe die Motten.«
Erienne nickte und schluckte das Schluchzen herunter, das sie schüttelte.
»Bitte, lass nicht alle tot sein«, sagte sie. »Bitte.«
»Ich werde tun, was ich kann«, sagte Ilkar leise. »Und jetzt geh. Geh nach draußen und schnappe frische Luft.«
Übermannt von Verzweiflung lief Erienne durch den Ballsaal hinaus.
Ilkar sah sich im Speisesaal um und erkannte, warum sie sich hierher zurückgezogen hatten. Er war trocken. Wahrscheinlich
der einzige trockene Raum im ganzen Haus. Ein Kamin strahlte noch ein wenig Wärme ab, und die Fenster waren fest verriegelt, die Blenden waren über gesplittertes Glas gelegt worden.
Der Esstisch war so weit wie möglich nach links geschoben worden, und im Zentrum standen jetzt vier Betten, die alle belegt waren. In mindestens einem lag eine Leiche. Er trat weiter in den Raum hinein. Der
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