Der Canyon
kannte sich so gut wie gar nicht mit dem Computer aus, und er war ein lausiger Mineraloge. Sie hatte die Analysen durchgeführt, sich die richtigen Fragen zu dieser Probe gestellt und ihr die Antworten entlockt. Sie hatte die Verbindungen hergestellt, die richtigen Schlüsse aus den Daten gezogen, Theorien entwickelt.
Allmählich wurde ihr klar, warum Corvus das alles so geheim halten wollte. Eine derart spektakuläre Entdeckung würde einen wahren Sturm von Konkurrenten und Intrigen entfesseln, eine Art Goldrausch nach dem Rest des Fossils. Corvus könnte leicht die Kontrolle über seine Entdeckung verlieren – und damit die Anerkennung. Er begriff sehr wohl den Wert dieses Konzepts, Anerkennung. Das war die klingende Münze in der Welt der Wissenschaft.
Anerkennung. Ein heikles Konzept, wenn man es recht bedachte.
Auf einmal waren ihre Gedanken so klar wie seit Monaten nicht mehr – vielleicht sogar seit Jahren. Möglicherweise lag es daran, dass sie es so satt hatte – sie hatte es satt, es anderen recht zu machen, für andere zu arbeiten, und sie hatte diese Gruft von einem Labor satt. Ihr Blick fiel auf das Saphirarmband. Sie nahm es ab und ließ es vor ihrer Nase hin und her baumeln, wobei die Edelsteine verführerisch glitzerten. Corvus hatte eines der günstigsten Geschäfte seiner gesamten Laufbahn gemacht, als er ihr dieses Schmuckstück geschenkt hatte, in dem Glauben, er könne sich damit ihr Schweigen erkaufen und dafür sorgen, dass sie seine brave, kleine graue Maus blieb. Angewidert stopfte sie das Armband in ihre Tasche.
Nun begriff Melodie, warum Corvus vorhin so reagiert hatte, warum er am Telefon so verstockt, ja verstört gewirkt hatte. Sie hatte ihre Sache zu gut gemacht. Er machte sich Sorgen, weil sie zu viel erfahren hatte und auf die Idee kommen könnte, seine Entdeckungen als ihre auszugeben.
Melodie Crookshank hatte einen Geistesblitz; jetzt wusste sie, was zu tun war.
7
Das M-LOGOS-455-Massenparallelrechner-System war der leistungsfähigste Computer, den die Menschheit bis dato konstruiert hatte. Er stand in einem permanent klimatisierten, staubfreien, antistatischen Keller tief unter dem Hauptquartier der National Security Agency in Fort Mead, Maryland. Er war nicht zu dem Zweck konstruiert worden, das Wetter vorherzusagen, eine Fünfzehn-Megatonnen-Thermonuklear-Explosion zu simulieren oder die viertausendbilliardste Ziffer von Pi zu errechnen. Er wurde zu einem wesentlich profaneren Zweck erschaffen: um zu lauschen.
Zahllose Informationsknotenpunkte auf der gesamten Welt sammelten einen gigantischen Strom digitaler Informationen. Dieses Netz hörte über vierzig Prozent des Datenverkehrs im World Wide Web ab, über neunzig Prozent aller mobilen Telefonate, praktisch die gesamte Radiokommunikation, alle Fernsehprogramme, viele Festnetz-Telefonate und einen Großteil des Datenverkehrs von Regierungen, der Wirtschaft sowie privater Computernetzwerke.
Diese Datenflut wurde dem M455MPP mit 16 Terabyte pro Sekunde in Echtzeit übermittelt.
Der Computer hörte nur zu.
Er kannte so gut wie jede Sprache, jeden Dialekt, jedes Verschlüsselungsprotokoll und fast jeden Filteralgorithmus, der jemals zur Analyse von Sprache geschrieben worden war. Aber das war noch nicht alles: Der M455MPP war weltweit der erste Computer, der eine neue, streng geheime Form der Datenverarbeitung anwandte, die sich Stutterlogic nannte. Stutterlogic war von höchst qualifizierten Kybernetikern und Programmierern der Defence Intelligence Agency entwickelt worden, um das große Riff der Künstlichen Intelligenz zu umsegeln, an dem die Hoffnungen so vieler Programmierer im Lauf der vergangenen Jahrzehnte Schiffbruch erlitten hatten. Stutterlogic war eine völlig neue Art, Information zu betrachten. Während die Künstliche Intelligenz erfolglos versucht hatte, die menschliche Intelligenz zu simulieren, operierte Stutterlogic mit einer völlig neuen Art von Logik, die weder auf rechnerischer noch auf Künstlicher Intelligenz beruhte.
Doch selbst bei Stutterlogic konnte man nicht behaupten, dass der Computer »verstand«, was er hörte. Seine Aufgabe war lediglich, eine »communication of interest«, eine möglicherweise verdächtige Kommunikation oder, im Jargon seiner Benutzer, »CI« zu identifizieren und zur Überprüfung an einen Menschen weiterzuleiten.
Die meisten CIs, die der M455MPP ausspuckte, waren E-Mails oder Handy-Gespräche. Letztere wurden auf die einhundertfünfundzwanzig menschlichen
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