Der Chirurg von Campodios
»Verzeiht, Häuptling Okumba, aber der Gott der Christen verbietet es, ein Mahl mit Fleisch zu beginnen.« Er schob Vitus und den Freunden einen Maiskuchen zu, verschlang selbst einen und biss dann ohne zu zögern in die Larve.
Der Zwerg tat es ihm gleich. »Wui, wui, Herr Oberschwarzmann, der Engerling schmerft!«
»Euer Gott ist ein schwacher Gott«, entgegnete Okumba, und ein dünnes Lächeln umspielte seine Lippen. »Nicht nur, dass er euch Dinge aufbürdet, die sinnlos sind, wie das Verbot, eine Mahlzeit mit Fleisch zu beginnen, er ist nach meiner Erfahrung auch sehr vergesslich. Heute sagt er, dass vor ihm alle Menschen gleich sind, morgen heißt er es gut, dass die Weißen die Schwarzen versklaven. Übermorgen sagt er wieder, dass alle Menschen gleich sind, ändert aber nichts an dem vorhandenen Zustand. Ich an eurer Stelle würde mir andere Götter suchen. Unsere zum Beispiel. Wir wissen wenigstens, woran wir sind und was unsere Götter wollen.«
»Verzeiht.« Der Magister schluckte rasch seinen Bissen hinunter. »Unser Gott will wahrhaftig, dass alle Menschen gleich sind. Aber viele derjenigen, die Seinen Namen im Munde führen, wollen es nicht: Es sind alle die, die Seinen Willen nach ihrem Gutdünken auslegen. Zu ihrem eigenen Vorteil, wie sich denken lässt.«
»Natürlich. Solche Fälle gibt es in meiner Heimat, die ihr Afrika nennt, auch. Wir haben ebenfalls solche Menschen, es sind Geisterbeschwörer und Medizinmänner. Sie sagen uns, was unsere Götter wollen.«
»Seht Ihr, Häuptling Okumba!«
»Allerdings haben sie uns noch nie befohlen, die halbe Welt zu versklaven.«
»Nun, äh … zweifellos ist es so.«
»Und dass man ein Mahl nicht mit Fleisch beginnen darf, haben sie auch noch nie gefordert.« Der Riese grinste jetzt. »Aber es sind ja auch nur Schwarze.«
»Häuptling Okumba! Mein Freund Vitus und ich wissen um die Schwäche der Menschen, die den Willen des Christengottes nach ihren Wünschen ausdeuten, das kann ich Euch versichern. Wir haben sie leidvoll erfahren müssen, diese Schwäche, und wir verdanken ihr grausame Haft im Kerker, wo es wahrhaftig nicht solche Köstlichkeiten gab wie diese.« Der Magister knuffte Vitus heimlich in die Seite. »Es ist doch so. Nicht wahr, Vitus?«
»Oh, ja, ganz recht.« Vitus nahm sich zusammen, ergriff eine Larve und biss hinein. Wider Erwarten war ihr Geschmack fein und würzig und ein wenig nussig. »Äh, die Larven sind wirklich sehr gut.«
»Das freut mich«, antwortete Okumba. »Dann solltest du auch von den gerösteten Ameisen probieren.«
Erst als die Dämmerung hereinbrach, erhob sich Okumba mit seinen Kriegern von der Tafel. Die Geschmeidigkeit seiner Bewegungen hatte etwas gelitten, denn sein Magen war bis zur Berstgrenze gefüllt. Der Grund für die Ausgiebigkeit des Mahls lag in der Tatsache, dass er an Vitus Gefallen gefunden hatte, was im Übrigen auf Gegenseitigkeit beruhte. »Bleib, wir essen noch eine Kleinigkeit«, hatte der Riese ein ums andere Mal gerufen und laut nach weiterer Speise verlangt. »Du erzählst mir noch mehr von deinen medizinischen Künsten, und ich erzähle dir von dem Land, in dem alle Menschen von dunkler Hautfarbe sind.«
Zwei ältere Frauen des Dorfes, denen das Kochen für Okumba oblag, waren daraufhin mit immer neuen Speisen erschienen, darunter manches Gewohnte, aber auch viel Befremdliches, wie geröstete Laubheuschrecken, in Lehm gebackenes Gürteltier und gesottene Zungen vom scharlachroten Ara. Dazu hatte es Mais in jeder Darreichungsform gegeben. Am Ende war selbst der Magister so satt gewesen, dass er mehrfach nach einem Schluck
Aqua vitae
oder Ähnlichem verlangte, um seine Verdauungssäfte anzuregen.
Doch wie sich zeigte, gab es im Haus von Okumba nicht den winzigsten Schluck Alkohol, was den kleinen Gelehrten zwang, auch so auf die Beine zu kommen.
Während der Riese durch den Vorhang hinaus auf den Dorfplatz trat, erklärte er den Freunden mit ernster Miene: »Ich erweise euch die Ehre, mich zu einem besonderen Schauspiel begleiten zu dürfen. Es ist ein Ritual, das nur zweimal im Jahr stattfindet. Es geht der eigentlichen Mutprobe voraus und wird von meinen Kriegern überaus wichtig genommen. Bitte bedenkt, dass dabei nicht laut gesprochen werden darf.«
»Was geschieht denn da?«, fragte Vitus, der vor dem Gang noch rasch seine Gliedmaßen streckte. Er war es weder gewohnt, solche Mengen zu essen, noch dabei stundenlang auf dem Boden zu sitzen.
»Es ist ein Brauch, den ich
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