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Der Chirurg von Campodios

Der Chirurg von Campodios

Titel: Der Chirurg von Campodios Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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sich um eine Missgeburt«, erklärte er. »Das Kind – oder besser: die Kinder – müssen schon ein paar Jahre alt gewesen sein, als sie starben.« Er sah noch genauer hin. »Sie haben Milchzähne, das bestätigt meine Annahme. Seht, ein erklärendes Schriftstück liegt dabei.«
    Das war in der Tat so, und für den Betrachter stand da zu lesen:
    Doppelbildung, an der Brust verwachsen. 4 a. alt
    »Grauslich, grauslich!« Der kleine Gelehrte schüttelte sich und ging weiter. »Möchte wetten, dieses Monstrum hat Achille höchstpersönlich dort hingestellt. Hoffentlich hat er nicht noch mehr davon auf Lager.«
    Doch die Hoffnung des Magisters erfüllte sich nicht. Nur wenige Schritte später begegnete ihnen der Druck eines Holzschnitts. Er zeigte nackte weibliche Zwillinge, die an der Stirn zusammengewachsen waren. Eine Handschrift tat kund:
    Gemini,
Doppelbildung mit Verschmelzung der Stirn
(Craniopagus frontalis)
    »Schnell weiter«, bat der kleine Gelehrte. Doch kurz darauf stockte ihm abermals der Schritt. Ein Glashafen mit klarsichtiger Flüssigkeit hatte ihn aufgehalten. In dem Behältnis befand sich ein männlicher Embryo mit zwei Köpfen und drei Armen. Der dritte Arm ragte zwischen den Köpfen empor.
    Doppelköpfiger Fetus mit drei Armen
(Dicephalus tribrachius)
    Das nächste Objekt sah vergleichsweise harmlos aus. Es handelte sich um einen dunkelblauen langen Damenhandschuh, der auf einem Samtkissen lag.
    Florentiner Handschuh, wohlriechend, hochgiftig, tödlich
    »Wenn es darum geht, andere ins Jenseits zu befördern, ist der menschliche Erfindungsgeist unerschöpflich«, brummte der kleine Mann. »Stellt euch vor, man streift den Handschuh ahnungslos über, erfreut sich seines Anblicks und stirbt alsbald. Entweder durch das Gift, das im Stoff sitzt und in die Haut eindringt, oder durch den Duft. Oder durch beides.«
    Es folgten mehrere unscheinbare, kieselgroße Steine mit lapidarer Auskunft:
    Narrensteine, exstirpiert in Saint-Maur/Paris
    Der Magister schüttelte sich. »Narrensteine hat er auch! Hoffentlich mussten die Geistesschwachen nicht zu sehr leiden, als man vorgab, sie ihnen zwecks Heilung aus dem Schädel schneiden zu müssen. Ich muss schon sagen, Achille hat ein wahres Kuriositätenkabinett. Es gibt nichts, was er nicht hat. Seht mal, da ist ein Messer. Was es wohl damit auf sich hat?«
    »Das Ehrenwort eines Edelmannes«
    Französischer Dolch am Hofe Katharinas von Medici, Mordwaffe, die Gaspard de Coligny zu Tode brachte
    Sie gingen weiter und landeten bei mehreren prächtig gefärbten Schmetterlingen, von denen jeder einzelne mehr als handtellergroße Flügel aufwies. Das größte Exemplar maß von Flügelspitze zu Flügelspitze wohl an die zehn Zoll.
    Lepidoptera (Ditrysia)
div. Spezies
    Alle Falter besaßen gut erhaltene lange Fühler; ihre aufgerollten Saugrüssel wirkten wie kleine Schläuche. Sie steckten auf starken Nadeln, die sich mitten durch ihren Leib bohrten. »Brrr«, machte der Magister, »das erinnert mich an
Ewe wudu
. Habt ihr eigentlich bemerkt, dass wir beständig nach links im Kreis gehen, wobei der Weg immer enger wird?«
    Vitus war direkt hinter ihm. »Haben wir, altes Unkraut. Und ich glaube jetzt auch zu wissen, was L’Escargot heißt: nichts anderes als ›Die Schnecke‹. Wir sind sozusagen in einem Schneckenhaus.«
    »Dann bin ich mal gespannt, was uns im Innersten erwartet. Irgendwo muss Achille doch sitzen.«
    Der kleine Gelehrte musste seine Ungeduld nicht mehr lange im Zaume halten, denn kurz darauf standen sie vor zwei Türen. Die eine war offen und ließ den Blick frei auf eine Art Schankstube, in der einige Zecher beim Wein saßen. Die andere war verschlossen. »Nach Rebensaft ist mir nicht!«, verkündete der Magister. »Erst will ich wissen, wo Achille sich versteckt hält und wie es Jaime geht. Ob die Tür wohl abgeschlossen ist?«
    Sie war es nicht, und die Freunde betraten zögernd einen quadratischen Raum, in dem es ähnlich schummrig war wie auf dem Gang. An allen vier Wänden brannten Öllampen, in deren flackerndem Licht weitere Exponate sichtbar wurden, darunter verschiedenste Kristalle, Behältnisse und Tiegel mit unbekannten Inhalten und nicht zuletzt die beiden Amethystdrusen, welche die Freunde schon kannten. Quer über die Decke verlief ein großes Pergament mit der Abbildung eines Tierkreismännchens und den Hinweisen für die »Lasszeiten«, jenen Zeiten, zu denen der Aderlass am besten durchgeführt wurde, dazu die geeigneten

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