Der Chirurg von Campodios
einmal erleichtern mussten. Nun, wenn die Notdurft verrichtet war, würden sie schon erscheinen. Banester, dessen Einhaltvermögen legendär war, gelang es, den Mittelfinger durch das Loch im Stirnbein zu stecken und mit der Fingerkuppe durch die vordere knöcherne Nasenöffnung wieder herauszukommen.
Harvey war ebenfalls entschuldigt. Er versuchte, ein paar menschliche Anschauungsobjekte aufzutreiben.
Der Prüfling ließ noch auf sich warten, doch konnte ihm daraus kein Vorwurf gemacht werden, denn die große Räderuhr in seinem Speisezimmer hatte eben noch eine Viertelstunde vor drei angezeigt. Überhaupt war dem Prüfling nichts vorzuwerfen. Er hatte sich am Vormittag achtbar geschlagen, das musste jeder, der neutral sein wollte, einräumen. Auch Woodhall. Banester seufzte. Woodhall mit seinem Fimmel für die betäubenden und schmerzstillenden Mittel. Wenn er das Thema erst einmal am Wickel hatte, konnte ihn so leicht nichts mehr bremsen. Banester nahm den Mittelfinger aus der Nasenöffnung und steckte ihn durch die linke Augenhöhle. Er würde bei Woodhall dazwischengehen müssen, um das Verfahren abzukürzen.
»Da bin ich wieder, Sir.« Vitus von Campodios war neben Banester getreten, ohne dass dieser es bemerkt hatte. »Ich habe Euch hoffentlich nicht erschreckt?«
»Nicht im Geringsten«, erwiderte der Hausherr, obwohl dies nicht ganz der Wahrheit entsprach. Er legte den Schädel zurück und beschloss, einer Eingebung folgend, sofort mit der Prüfung fortzufahren. So blieb ihm ein persönliches Gespräch mit dem Examinanden erspart. Derlei Konversation, das war Banesters Überzeugung, hatte bei einer Prüfung nichts verloren. »Wisst Ihr, was das für Löcher hier im Schädel sind, Vitus von Campodios?«
»Jawohl, Sir. Es sind Bohrlöcher, die mittels eines Trepans hergestellt wurden.«
»Wozu ist so etwas nütze?«
»Schädelöffnungen, Sir, sind manchmal notwendig. Beispielsweise nach einem Unfall, wenn der Patient unter Sehstörungen, Schwindel, Ohrensausen oder unerträglichem Kopfschmerz leidet. Meistens ist ein Hämatom, das aufs Gehirn drückt, die Ursache. Aber auch eine Geschwulst kann der Grund für die genannten Symptome sein.«
»Sehr schön, die nächste Frage …«
»Die nächste Frage, mein lieber Banester, stelle ich. Denn wie Ihr Euch sicher erinnern könnt, war ich zuletzt dran.« Woodhall stand da wie der Fleisch gewordene Vorwurf. Neben ihm Clowes, der sich bemühte, mit Finger und Spucke einen Saucenfleck aus seinem Wams zu reiben.
»Sicher, sicher«, gab sich Banester friedlich. Er fühlte leichte Verärgerung, dass er auch Woodhalls Erscheinen nicht bemerkt hatte. Das lag alles nur an diesem verdammten Katarrh, der ihm die Sinne vernebelte! »Setzt Eure Befragung nur fort, Woodhall.«
»Das werde ich. Wenn ich dann bitten darf.« Woodhall stelzte voran und begab sich zum hinteren Bereich des Saals, wo die zweite Bank noch ihrer Enthüllung harrte. Er nahm das Tuch ab, und eine Fülle von Behältnissen, in denen sich die unterschiedlichsten Pflanzen, Pulver und Wässer befanden, kam zum Vorschein.
»Wie Ihr vielleicht wisst, Herr Prüfling, hat man sich den Cirurgicus in Ausführung seiner Arbeit keinesfalls nur mit Schermesser, Skalpell, Aderlasseisen oder Knochensäge vorzustellen – er muss vielmehr auch in der Lage sein, seine Arzneien selber zu präparieren.« Woodhall wies auf einige Utensilien, die ebenfalls auf der Bank standen, darunter Mörser, Reibsteine, Siebe und Trichter.
»Jawohl, Sir.«
»Nun, wenn ich nicht irre, waren wir beim Stichwort
Spongia somnifera
stehen geblieben, beim Schlafschwamm also. Ich will wissen, wie Ihr ihn anwendet. Doch nennt mir zunächst die Ingredienzen für die Flüssigkeit und zeigt sie mir hier auf der Bank.«
»Jawohl, Sir. Es gibt verschiedene Rezepturen für die Herstellung, jedoch sind die Säfte von Opium, Bilsenkraut, Alraune, Schierling und wildem Efeu fast immer dabei. Das Mischungsverhältnis ist von Fall zu Fall verschieden.« Vitus zeigte auf die Flaschen und Glashäfen, in denen sich die aufgezählten Liquores befanden.
»Gut. Tränkt Ihr als Nächstes den Schwamm mit der Flüssigkeit, oder wie geht Ihr vor?«
»Ja, Sir, wenn ich einen habe. Habe ich keinen, kann der Patient die Dämpfe auch so einatmen. Häufig aber ist er dazu nicht in der Lage, dann ist ein Schwamm vonnöten. Er muss dem Kranken direkt an die Nase gepresst werden, damit die Flüssigkeit besser an die Schleimhäute gelangt.«
»Stimmt.
Weitere Kostenlose Bücher