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Der Chirurg von Campodios

Der Chirurg von Campodios

Titel: Der Chirurg von Campodios Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Stall und ruhst dich aus, mein Alter.«
    Odysseus spielte mit den Ohren.
    »Hier, eine Möhre, weil du so tapfer warst.« Keith strich dem Hengst über die Nase und ging hinüber zum Haupthaus, in dem die Schreibstube von Catfield lag.
    Als er nach kurzem Klopfen eintrat, fand er den Verwalter beim Prüfen der Rechnungsbücher vor. Er nahm seine Kappe ab und blieb stumm wie ein Fisch neben der Tür stehen. Catfield ließ sich Zeit und setzte erst noch ein paar Unterschriften, bevor er aufsah. »Nun, Keith, wie sieht’s aus mit Odysseus?«
    »Wenn Ihr mich fragt, Sir, ist es eine Sehnenentzündung. Im Bein ist zu viel Hitze, und die muss erst mal raus. Ich habe deswegen die Stelle gekühlt und einen Verband angelegt. Wenn nichts dazwischenkommt, Sir, kann Odysseus in einer Woche wieder geritten werden.«
    »Das höre ich gern. Du weißt ja, dass Odysseus der Lieblingshengst des alten Lords ist.«
    »Jawohl, Sir!« Natürlich wusste Keith das. Schließlich war er sein Leben lang schon auf dem Gut. Er war zusammen mit Odysseus aufgewachsen und konnte sich genau erinnern, wie gern Seine Lordschaft ihn immer geritten hatte. Zuletzt war das, wenn er sich recht erinnerte, vor ungefähr einem Jahr gewesen. Da hatte der alte Herr sich noch bester Gesundheit erfreut und nicht unter der verteufelten Zitterkrankheit gelitten, die ihn in den letzten Wochen ans Bett fesselte. Keith tat das von Herzen Leid, denn er mochte den Lord.
    Er hatte den Verlauf der tückischen Krankheit mitverfolgt und, wie alle anderen der Dienerschaft, jeden Sonntag in der Kirche für die Gesundheit seines Herrn gebetet. Doch ihre Bitten waren nicht erhört worden. Die Krankheit hatte sich immer weiter verschlimmert. Zunächst waren es nur die Hände, die der Lord nicht hatte ruhig halten können. Dann war der Kopf hinzugekommen. Einige Zeit später, als alle schon hofften, sein Zustand würde sich nicht verschlechtern, hatte die Krankheit erneut zugeschlagen: Die Schritte des alten Herrn waren kürzer und kürzer geworden; er war nicht mehr in der Lage gewesen, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Stuhl und Bett wurden seine dauernden Aufenthaltsorte. Und ganz zuletzt, um das Maß seines Leidens voll zu machen, hatte die Krankheit ihm die Stimme genommen. Sie glich nur noch einem Wispern.
    Vitus, der junge Herr auf Greenvale Castle, hatte seine ganze ärztliche Kunst aufgeboten, um die Krankheit zu besiegen, doch was er auch versuchte, nichts hatte Linderung gebracht.
    »Vielleicht wäre es nett, Sir, wenn ich Seiner Lordschaft ein bisschen was von Odysseus erzähle«, sagte Keith. »Die Sache mit dem Bein muss ich ja nicht unbedingt erwähnen.«
    »Gute Idee, Keith, tu das. Aber achte darauf, dass du Seine Lordschaft nicht zu sehr anstrengst.«
    »Gewiss, Sir!«
    »Dann schwirr ab. Und wenn du zurückkommst, meldest du dich bei mir. Dein Tagewerk ist noch nicht zu Ende.«
    »Jawohl, Sir!« Keith setzte seine Kappe wieder auf und stürmte hinaus. Er lief über das Gutsgelände hinüber zum Schloss, nahm auf der Freitreppe immer zwei Stufen auf einmal und befand sich wenig später im ersten Stockwerk, wo das Krankenzimmer für den alten Herrn eingerichtet worden war. An der Tür prallte er mit Hartford, dem persönlichen Diener Seiner Lordschaft, zusammen. Hartford neigte, da er die Dienste für seinen Herrn höher bewertete als alle anderen Arbeiten im Schloss, zu einiger Blasiertheit, doch in diesem Moment war davon nichts zu bemerken. Seine Augen waren schreckgeweitet. »Ich glaube, es geht bald zu Ende!«, stammelte er.
    »Was sagst du?« Keith mochte nicht glauben, was er da gehört hatte. »Heute Morgen hat der Lord doch noch gut gegessen, jedenfalls brüstete sich die dicke Mrs Melrose damit. Erzähl schon!«
    »Du sollst mich nicht immer duzen!« Selbst in dieser Situation achtete Hartford auf Distanz. »Ich habe es dir schon tausendmal gesagt. Nenne mich ›Sir‹.«
    »Ja doch, in Gottes Namen, ›Sir‹, und jetzt erzählt mir, was dem Lord fehlt.«
    Hartford sank auf einen Stuhl, der neben der Tür stand, und vergrub das Gesicht in den Händen. Seine hochnäsige Art fiel von ihm ab wie ein alter Mantel. »Wenn ich das nur wüsste … Er ist nicht mehr ansprechbar … atmet ganz flach … was mach ich nur, was mach ich nur …«
    Keiths Gedanken überschlugen sich. Er unterdrückte den Impuls, ans Krankenbett des Lords zu eilen, denn er wusste, er würde dort nichts ausrichten können. Er verstand zwar einiges von Pferdemedizin, aber die

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