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Der Chirurg von Campodios

Der Chirurg von Campodios

Titel: Der Chirurg von Campodios Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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noch eine Woche hier im Hafen zu vertrödeln?«
    »Sir!« Vitus lief puterrot an vor Zorn. »Ihr habt mich lediglich dazu benutzt, eine Meinung zu erhärten! Ihr habt zu keiner Zeit ernsthaft daran gedacht, mich und meine Freunde mitzunehmen, Sir, Ihr seid, Ihr seid …«
    »Sagt lieber nicht, was ich bin«, unterbrach ihn Drake kalt. »Das haben andere schon getan, und den wenigsten ist es gut bekommen. Aber niemand soll behaupten, der Korsar Francis Drake sei undankbar.« Er trat an den Tisch und wischte ein paar Karten zur Seite. Eine kleine Schatulle wurde sichtbar. Seine Hand fuhr hinein und kam mit einem Goldkettchen heraus, das er dem widerstrebenden Vitus um den Hals hängte. »Hier, für Euch. Ich habe das Stück an jenem Tag im August 72, als mich die Kugel traf, erbeutet.«
    »Sir, das kann ich nicht …«
    »Nehmt die Kette an, bevor ich es mir anders überlege. Und nun entschuldigt mich, ich habe zu tun.«
    Vitus grüßte ohne ein weiteres Wort und verließ die Kajüte. Draußen empfing er seinen Degen wieder, nickte dem salutierenden Wachtposten zu und betrachtete die Kette zum erstenmal richtig. An ihrem unteren Ende entdeckte er eine wundervoll gearbeitete Miniatur, die so klein war, dass er sie ganz nah ans Auge halten musste, um Einzelheiten zu erkennen. Sie zeigte die Mutter Gottes mit einer winzigen Inschrift:
    Madre dolorosa.
     
    Am Abend des 17. November betraten Vitus, der Magister und Enano müde und hungrig die Gaststube von Polly’s Wharf. Wie in den vergangenen Tagen waren sie wieder von Schiff zu Schiff gelaufen und hatten sich um eine Passage in die Neue Welt bemüht. Und wie in den vergangenen Tagen war es vergebens gewesen. Die Empfehlungsschreiben des
Collegium medicum
an den Stalhof, an die Admiralität und an die Kaufmannschaft in London waren in Plymouth so viel wert wie eine Pflugschar im Wasser.
    Trotz der späten Stunde herrschte bei Polly noch Hochbetrieb. Fast jeder Platz war besetzt und die Luft zum Schneiden dick. Ein kräftiges Feuer prasselte im Eckkamin und trieb den Zechern den Schweiß auf die Stirn, was allerdings eher begrüßt als bedauert wurde, denn dem Schwitzen konnte auf angenehme Weise abgeholfen werden: durch Bestellung starker, kühler Getränke – ganz im Sinne der Wirtin.
    Im hinteren Bereich des Raums, gleich neben der Küche, in der Polly die Mägde hin- und herscheuchte, saßen ein paar Matrosen, deren Aufmerksamkeit nicht nur ihren Bierkrügen galt, sondern auch zwei jungen Frauen ganz in der Nähe. Die Mädchen trugen knapp sitzende bunte und ein wenig schäbige Kleider, was jedoch in dem schummrigen Licht kaum auffiel.
    »He, Kleine!«, rief gerade ein Bär von einem Mann, »kannst du mir sagen, wo hier die schönsten Glocken hängen?« Lachend wölbte er seine riesigen Pranken und deutete das Anheben zweier Brüste an.
    »Nee, kannich nich, Süßer!«, gab die größere der beiden, eine vollbusige Brünette mit Püppchengesicht, zurück. »Aber ich weiß, wo ’n richtiger Klöppel hängt!«
    »Hä?«
    »In deiner Hose jedenfalls nich.« Einige der Umsitzenden, besonders die Frauen, kreischten auf.
    »Die hat’s dir aber gegeben, Bruce!«, freute sich ein anderer Matrose. »Wie heißt du, mein Täubchen?«
    »Das geht dich ’n feuchten Kehricht an, aber wennde einen für mich un«, sie wies auf ihre Freundin, eine blasse, blutarme Person, »diese Dame da springen lässt, sach ich’s.«
    »Wird gemacht.«
    »Also gut, ich heiß Phoebe, un das is Phyllis, un trinken tun wir Brandys, aber große!«
    »Jaja, große«, bestätigte Phyllis.
    Wie versprochen bestellte der Matrose das Gewünschte, und als Polly wenig später die Becher brachte, wurde sie gewahr, dass Vitus mit seinen Freunden noch immer in der Tür stand und nach einem Platz Ausschau hielt. »Warum setzt ihr euch nicht, Jungs?«, rief sie mit starker Stimme. »Seid ihr zu schüchtern? Rückt mal, Leute, aber ein bisschen dalli!«
    Ihrem Befehl wurde umgehend Folge geleistet, etwas anderes war bei Polly undenkbar.
    »Ich habe euch was besonders Feines zum Futtern aufgehoben, Jungs!«, verkündete sie, nachdem sie den Brandy bei den Mädchen abgestellt und die Freunde sich gesetzt hatten. »Ich bring’s gleich.«
    Kurz darauf war sie zurück und präsentierte stolz ein wagenradförmiges braunes Gebilde, das, so seltsam es aussah, verführerisch duftete. »Wildbrettorte! Eine Spezialität von mir. Ich habe sie heute extra zur Feier des Tages hergestellt. Ihr wisst doch, welch

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