Der Chirurg von Campodios
besonderer Tag heute ist?«
Die Freunde blickten sich an und zuckten mit den Schultern. »Um die Wahrheit zu sagen, nein«, erwiderte Vitus schließlich.
»Ihr seid mir vielleicht Banausen! Aber darin unterscheidet ihr euch in nichts von den meisten Säufern hier. Heute ist doch die neunzehnte Wiederkehr der Thronbesteigung unserer Jungfräulichen Königin!« Sie winkte einer der Küchenmägde, während sie begann, die Wildbrettorte kunstgerecht zu zerteilen. »He, Sue, hole den Herren drei Humpen Rotwein!« Und leiser: »Von dem guten, dem samtigen aus Bordeaux …«
»Von irgendwelchen Feierlichkeiten zum Thronbesteigungstag war im Hafen aber nichts zu sehen«, meinte der Magister, der bereits ein Stück Torte in der Faust hielt und genüsslich davon abbiss. »Aber es ist mir auch schnurz, solange sie dir Anlass zur Herstellung derartiger Köstlichkeiten geben.«
»Ham, ham!« Das Fischmündchen stülpte sich über einen fast gleich großen Brocken.
»Plymouth ist eben nicht London«, seufzte Polly. »Was meint ihr wohl, was dort den Tag über los war! Bestimmt hat Ihre Majestät sich wieder dem Volk gezeigt, genau wie damals vor neunzehn Jahren. Ich selbst war seinerzeit gerade über zwanzig und ziemlich unbedarft, arbeitete als … nun ja, das tut nichts zur Sache, jedenfalls erzählte man sich im ganzen Land, wie die Königin vom Tower nach Whitehall gebracht wurde. Vier Ritter trugen sie in einer Sänfte, die über und über mit goldenem Brokat ausgeschlagen war. Das Volk machte lange Hälse und war zu Hunderten auf extra errichtete Schaugerüste geklettert. Frauen reichten ihr Kuchen und Marzipan in die Sänfte, und sie bedankte sich, indem sie viele schorfige Arme berührte, denn seit altersher ist bekannt, dass die aufgelegte Hand einer Königin heilt.«
Polly war unbeabsichtigt ins Schwärmen gekommen, und vielleicht war das der Grund, warum sie ein weiteres Mal ihre ehernen Gesetze durchbrach und sich zu den Freunden setzte. »Warum isst du nicht auch, Gabriel? Hast du keinen Hunger?«
»Doch, Polly, der Kopf steckt mir nur voller Gedanken. Ich mache mir Sorgen, weil wir kein Schiff finden.«
»Dadurch, dass du nichts isst, treibst du auch keines auf. Greif schon zu, Wildbrettorte ist etwas Herzhaftes, die würde auch unserer Königin schmecken.«
Vitus gehorchte und biss in ein Stück der cremigen, würzigen Pastete.
»Cheers, salute und sehr zum Wohle!«, rief der Magister, denn der Rote war inzwischen gekommen. Ihn als unverbesserlichen Optimisten schien die vergebliche Suche nicht weiter zu belasten. Ebenso wenig den Zwerg.
Während sie aßen und tranken, erzählte Polly, die wie alle Frauen ihrer Herkunft eine Schwäche für Königshäuser hatte, unaufgefordert weiter: »Überhaupt schätzt unsere Herrscherin das Deftige. Morgens nimmt sie lieber einen Hering und ein gewürztes Bier zu sich als heiße Schokolade. Wisst ihr, was Schokolade ist? Der neueste Modetrank in London. Ich kenne ihn nicht, aber er soll aus einem Zeugs namens Kakao hergestellt werden und sündhaft teuer sein. Manche böswilligen Zungen behaupten allerdings, die Königin wär zu geizig, um sich Schokolade zu leisten, aber daran glaube ich nicht. Nur ein Narr würde jemanden, der sich ein oder zwei Dutzend der prachtvollsten Kleider auf einmal anfertigen lässt, als geizig bezeichnen!«
Polly schaute Beifall heischend in die Runde und begann sich eine Pfeife zu stopfen. Als sie damit fertig war, schritt sie zum Kamin und entzündete den Tabak mit einem Kienspan. Die Gaststube lichtete sich allmählich. Es ging auf Mitternacht zu. Sich wieder zu den Freunden setzend, fuhr sie fort: »Jetzt, wo die Weihnachtszeit heranrückt, wird unsere Jungfräuliche Majestät wieder reichlich Gelegenheit haben, ihre Garderobe auszuführen. Wie man hört, finden täglich Gesellschaftsspiele bei Hofe statt, dazu werden Maskenfeste und Turniere veranstaltet; der Adel tanzt Pavane, Coranto und Galliarde und genießt die kurzweiligen Darbietungen von Sängern und Akrobaten. Ach ja …«, Polly sog so heftig am Stiel, dass es im Pfeifenkopf brutzelte und zischte, »wie gern wäre ich einmal, nur ein einziges Mal, dabei, es heißt nämlich, dass keineswegs immer nur Höflinge eingeladen werden!«
Die letzten Gäste verließen die Gaststube.
»Wenn die Königin mich nach Whitehall rufen würde, ich könnte jederzeit zu ihr gehen, habe den Hofknicks geübt und sogar etwas Passendes anzuziehen: einen Traum aus gelbem Atlas mit
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