Der Chirurg von Campodios
spanisch-gefälteltem Kragen und tief heruntergezogenem Mieder auf einem Gestell aus echtem Fischbein. Marble Pitts aus der King Street hat mir das Kleid auf den Leib geschneidert, und Schuhe und Strümpfe habe ich auch, nur eine Parfumkugel fehlt mir noch. Alle Hofdamen haben Parfumkugeln, um sich gegen Schweiß- und Mundgerüche zu schützen … Holla, habt ihr noch Hunger, Jungs?« Polly war wieder in die Wirklichkeit zurückgekehrt.
»Nein«, gab Vitus lächelnd zur Antwort. Er hatte sich gerade ausgemalt, wie Polly, die große, starkknochige Polly, in einem spitzenbesetzten Atlaskleid aussehen würde. Wahrscheinlich ähnlich elegant wie ein Tanzbär auf der Tenne … Die Selbsteinschätzung der Menschen ging nun einmal seltsame Wege, und jeder hatte seine eigenen Schrullen.
»Weder Hunger noch Durst, Polly«, gähnte der Magister. »Nur Sehnsucht nach Morpheus’ Armen.«
»Wui, wui, Frau Zapfhenne!«
»Dann gute Nacht, ihr zwei.« Polly nickte den beiden freundlich durch die Rauchschwaden ihrer Pfeife zu.
»Gute Schwärze!«
»Gute Nacht, Polly!«
»Gute Nacht«, wünschte auch Vitus, der sitzen blieb.
Der kleine Gelehrte und Enano steuerten die Stiege an, die zu den Schlafstuben im oberen Stockwerk führte. Als sie verschwunden waren, fragte Polly: »Ist es Zufall oder Absicht, dass du nicht mitgehst, Gabriel?«
Vitus zuckte mit den Schultern und blickte auf den Grund seines Humpens. »Ich weiß es nicht. Ich mache mir Sorgen, große Sorgen. Wir brauchen so dringend ein Schiff, und mit jedem Tag, den das Jahr vorrückt, werden die Chancen, eines zu finden, geringer. Kein Kapitän sticht während der Winterstürme in See, wenn er nicht unbedingt muss.«
Aus dem Augenwinkel sah Vitus, wie Polly aufstand und einen Krug Wein und einen weiteren Humpen herbeiholte. Sie goss sich und ihm ein. »Nimm das erst mal.«
»Danke. Seit wann trinkst du mit deinen Gästen?«
»Du bist kein Gast. Jedenfalls kein gewöhnlicher. Hab’s gleich gemerkt, als du das erste Mal zur Tür reinkamst. Du bist … du bist was Besseres, so etwas wie ein feiner Herr.«
»Und du bist ein feiner Kerl, Polly.«
»Scheinst es drauf abzusehen, mich in Verlegenheit zu bringen.« Polly räusperte sich umständlich. »Aber ich will verdammt sein, wenn es dir gelingt.«
Vitus starrte in seinen Humpen.
»Sag mal, Gabriel, es geht mich ja nichts an, aber warum willst du unbedingt noch in diesem Jahr in die Neue Welt?«
Vitus starrte weiter. Dann, fast widerstrebend, antwortete er: »Ich muss dort jemanden finden.«
Polly schwieg. Nur dicke Rauchwolken verließen ihren Mund. »Man müsste eine Seele aus Stein haben, um nicht zu spüren, dass es eine Frau ist, die du suchst.«
»Ja, Polly.«
»Wenn du magst, erzähle mir von ihr. Ich habe Zeit.«
»Es ist aber eine sehr lange Geschichte.«
»Ich habe sehr viel Zeit.« Polly erhob sich abermals und legte ein neues Scheit aufs Feuer. »Fang an.«
Vitus zögerte. »Also gut.« Er nahm einen großen Schluck und stierte wieder in den Humpen, gerade so, als würden die Bilder der Erinnerung darin auftauchen. Anfangs sprach er stockend, dann flüssiger, und schließlich sprudelten die Worte nur so aus ihm hervor. Er berichtete von seiner Jugend im spanischen Kloster Campodios, von den frommen Zisterziensern und ihren Zielen, der Mühsal des Mönchslebens, von seiner Ausbildung zum Cirurgicus und dem Rätsel um seine Herkunft.
Das Reden tat ihm sichtlich gut. Er nahm noch einen Schluck. »Es gab nur einen einzigen Hinweis auf mein Elternhaus – ein Wappen auf einem roten Damasttuch.«
»Ein Wappen auf einem roten Damasttuch?« Pollys Augen leuchteten. »Wie aufregend!«
»Eigentlich war es ein Wickeltuch. Der alte Abt Hardinus fand mich darin vor dem Klostertor. Ich wuchs bei den Mönchen auf und lernte alles, was ein Klosterschüler wissen muss. Doch als ich zwanzig war, spürte ich, dass ich die Gelübde nicht ablegen wollte. Ich konnte mir ein Leben als Mönch nicht vorstellen. Mich zog es hinaus, um nach meiner Familie zu suchen. Das Wappen wies mir den Weg von Spanien nach England, und während dieser Reise lernte ich den Magister und den Zwerg kennen. Mit dem …«
»Halt, halt, nicht so schnell«, unterbrach Polly. »Wie sah das Wappen denn aus?«
Vitus streckte seine Hand vor. »So wie auf diesem Siegelring.« Polly beugte sich vor und betrachtete ihn eingehend. »Blitz und Donner, ist der schön! Und bestimmt ungeheuer wertvoll!«
»Hmja, das ist er wohl. Mit dem
Weitere Kostenlose Bücher