Der Chirurg von Campodios
denn du sollst ja noch darin braten!«
I m späten November verlor der Hafen von Plymouth Tag für Tag mehr von seiner Geschäftigkeit. Die kalte, raue Jahreszeit nahte, und die Zahl der in See stechenden Schiffe sank beständig. Vitus und seine Freunde wanderten die Kais auf und ab, fragten hier, erkundigten sich dort, doch nirgendwo fand sich eine hochseetüchtige Galeone, die Kurs auf die Neue Welt nehmen wollte.
»Es ist nicht ganz leicht«, räumte der kleine Gelehrte kurz vor der Mittagsstunde ein, »lasst uns deshalb auch diese, nicht besonders einladende Kaianlage abklappern!« Er wies auf ein abseits gelegenes, unübersichtliches Hafenbecken, an dessen Ende neben Küstenseglern zwei oder drei Großgaleonen vertäut lagen.
Sie gingen weiter und bahnten sich ihren Weg durch Abfall, ausgesondertes Schiffsmaterial und altes Tauwerk. Nur wenige Menschen ließen sich hier blicken. Links im Hafenbecken schwammen einige tote Fische, rechter Hand roch es nach fettem Hammel aus einer Garküche. Die Freunde machten, dass sie weiterkamen, und stießen nach einiger Zeit überraschend auf eine Menschenmenge. Der Grund des Auflaufs war nicht erkennbar, nur eine schrille, unsichtbare Stimme schrie: »Die Pest in Plymouth! Die Pest in Plymouth!«
»Die Pest? Beim Blute Christi! Folgt mir, Freunde, wollen doch mal sehen, wer das verkündet.« Der Magister schob seinen drahtigen Körper zielstrebig durch die Menge, wobei er die eine oder andere Verwünschung über sich ergehen lassen musste. Endlich standen die drei vor dem Urheber des Geschreis. Es war ein Krüppel ohne Beine, der sich flink auf einem hölzernen Rollbrett fortbewegte. Der Bursche war von schmieriger Erscheinung, mit strähnigen Haaren und Pockennarben im Gesicht. Sein Blick wirkte beschwörend. Jetzt erhob er wieder die Stimme: »Die Pest in Plymouth!
Sacrificium, sacrificium!
«
»Was tarrt der Stelzlose uns spinnen?«, fragte der Zwerg.
»Er scheint ein Opfer für die Pest zu wollen. Möchte wissen, was er … Da, seht ihr’s? Der Bursche hat eine Ratte in der Hand!«
Tatsächlich hielt der Beinlose mit festem Griff eine Ratte hoch. Es war ein Riesentier, sein Körper maß wohl zwei Drittel Fuß, wobei der Schwanz noch um einiges länger war.
»Rattus, rattus!«
, rief der Mann. »Die Ratte ist die Sünderin. Die Ratte, die Ratte, allein die Ratte! Sie ist schuld, dass Plymouth an der Pest erstickt!«
»Der Kerl ist ein Spinner«, stellte der Magister fest. »Erstens gibt es gottlob nur in London einige Pestfälle, zweitens weiß kein Mensch genau, woher die Seuche kommt, was, Vitus?«
»Stimmt.« Nachdenklich betrachtete Vitus den Krüppel, der geschickt mit einer Hand sein Rollbrett um die eigene Achse drehte und dabei die Ratte weiter hochhielt.
Der Beinlose schrie: »Wenn Gott ein Opfer will, ihr Leute, dann ist es die Ratte! Sie ist es, die sterben muss, damit die Menschen leben, ganz so, wie Gottes Eingeborener Sohn für uns gestorben ist, damit wir erlöst werden.«
»Jetzt versündigt er sich«, stellte der Magister erschrocken fest. Er beeilte sich, ein Kreuz zu schlagen. »Aber er weiß es nicht, denn er ist nicht bei Sinnen.«
»Oder er tut nur so«, entgegnete Vitus.
Inzwischen hatte der Krüppel einen Stock zur Hand genommen und der Ratte damit eins übergezogen. Jetzt hing sie schlaff in seiner Hand. Er legte sie auf seinen Schoß, stieß sich mit den Fingerknöcheln vom Boden ab und rollte die wenigen Schritte zur Tür einer baufälligen Hütte. Auf die Tür war mit Kreidestrichen ein Kreuz gemalt worden. »Ans Kreuz mit dir, Ratte, wie weiland Jesus Christus, unser Herr!« Der Beinlose nahm das benommene Tier an beiden Vorderläufen, spreizte sie und hielt sie über den Querstrich des Kreuzes. Durch den herabhängenden Körper war die Ratte jetzt selbst zum Kreuz geworden – zu einem lebenden Sühnemal.
»Hinter dieser Tür, ihr guten Leute, sind vergangene Woche sieben brave Bürger, sieben gläubige Christen, vom schwarzen Tod dahingerafft worden, und noch immer befinden sich vier im Haus. Sie liegen in den letzten Zügen. Oh, Gott, Du Allmächtiger, nimm unser Opfer an, und errette diese armen Menschen!« Während der Krüppel dies schrie, hatte er einen Hammer und mehrere Stifte zur Hand genommen und die Ratte ans Kreuz genagelt.
»Sacrificium, sacrificium, sacrificium!«
»Das seh ich mir nicht länger an!«, zischte der kleine Gelehrte. »Ratten sind ein übles Geschmeiß, gewiss, aber sie ans Kreuz zu nageln,
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