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Der Chirurg von Campodios

Der Chirurg von Campodios

Titel: Der Chirurg von Campodios Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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ist widerlich und außerdem Blasphemie!«
    »Nein, warte! Siehst du den bulligen Kerl dort hinten an der Eckwand, den mit der ausgefransten Körperhose?«
    »Nein, seh ich nicht.« Der Magister blinzelte durch seine Berylle. »Doch halt, ja, jetzt hab ich ihn entdeckt! Was ist mit dem Burschen?«
    »Ich glaube, er steckt mit dem Krüppel unter einer Decke, denn zu seinen Füßen steht ein Käfig, und darin dürften weitere Ratten sein, für die nächste und übernächste Vorstellung. Die Herren wollen sich ihr grausames Spiel bezahlen lassen. Mal sehen, ob ich Recht behalte.«
    »Einverstanden.«
    Durch die zugefügten Torturen war die Ratte wieder bei vollem Bewusstsein, sie drehte und wand sich verzweifelt, zerrte an ihren festgenagelten Vorderläufen, und ihr Schwanz schlug heftig hin und her.
    »Sacrificium, sacrificium, sacrificium!«
Plötzlich hatte der Krüppel eine Peitsche in der Hand, die er mehrmals durch die Luft schwang, bevor er sie auf den Rücken des Tieres niedersausen ließ. Es gab einen hellen, klatschenden Laut. Ein Riss im Fell wurde sichtbar, aus dem alsbald mehrere Blutstropfen sickerten. Abermals sauste die Peitsche auf den kleinen Körper nieder, und ein Raunen ging durch die Gaffer, lüsterne Erwartung machte sich breit. Wie lange würde die Ratte, diese zähe, verfluchte Vorratsräuberin, das aushalten können? Hoffentlich eine hübsche Weile! Schließlich war man nicht zimperlich, beileibe nicht, man war es gewohnt, Mörder und Diebe ihr Leben aushauchen zu sehen. Das Hängen, Köpfen, Rädern, Vierteilen, das Abhacken einer Hand, das Herausschneiden einer Zunge, das Blenden eines Auges gehörten zum Alltag, es waren Prozeduren, die man kannte, und nicht einmal kleine Kinder ließen sich mehr von einem am Straßenrand aufgespießten Kopf abschrecken – aber das hier, das war etwas Neues, nie Gesehenes!
    »Sacrificium, sacrificium, sacrificium!«
Die Ratte kämpfte. Sie warf ihren Kopf in alle Richtungen, zeigte ihre messerscharfen Zähne und schnappte in die Luft, doch der Feind in ihrem Rücken war feige. Er stellte sich nicht.
    »Sacrificium, sacrificium, sacrificium!«
    Das gequälte Tier begann schrille Schreie auszustoßen. Sie klangen fast menschlich, ganz so wie die eines gepeinigten Kindes. Schauer liefen der Menge über den Rücken. Bei manchen Männern zog sich lustvoll das Skrotum zusammen. Weiter so, nur weiter! Der Krüppel holte erneut mit der Peitsche aus, aber zu seiner Verblüffung gelang ihm der Schlag nicht, denn wie aus dem Erdboden gewachsen stand neben ihm ein Mönch, der mit eisernem Griff seine Rechte umschloss.
    »He, was soll das, Pfaffe!«, schrie der Beinlose erbost.
    Der Gottesmann antwortete nicht. Nur in seinen schwarzen Augen stand Kampfeslust. Sie blickten aus großer Höhe auf den Krüppel herab, denn er war so lang aufgeschossen, wie Gott nur selten einen Mann wachsen lässt: wohl sechseinhalb Fuß groß, dabei knochig wie ein Klepper und dennoch, ganz offensichtlich, von gewaltiger Körperkraft. Er wirkte jugendlich, obwohl der Haarkranz um seine Tonsur schon einiges Grau zeigte. Seine Kutte dagegen war so verwaschen, dass niemand zu sagen vermocht hätte, von welcher Farbe sie einstmals gewesen war.
    »Lass endlich los, Pfaffe!«, schrie der Krüppel. »Oder, oder …«
    »Oder was, mein Sohn?« Der Mönch sprach mit hartem ausländischem Akzent. »Willst du mir etwa drohen? Mich bedrohen heißt die Kirche bedrohen, und die Kirche bedrohen heißt Gott bedrohen. Willst du also Gott bedrohen, du elender Sünder?«
    Ohne eine Antwort abzuwarten und immer noch die Rechte des Krüppels umklammernd, richtete er sich zu voller Höhe auf. »
Non pecca peccator!
, spricht der Herr: Sündige nicht, Sünder! Und dieser Mann hat gesündigt! Er hat eine Ratte auf dieselbe Weise traktiert wie einst Jesus Christus Unser Herr auf dem Hügel zu Golgatha traktiert wurde. Er hat sie ans Kreuz genagelt, und indem er dies getan, hat er sie auf eine Stufe gehoben mit dem Sohn des Allmächtigen. Das ist Sünde, Sünde, Sünde!«
    Die Menge, ein ungehobelter, überwiegend aus Männern zusammengesetzter Haufen, schwieg betreten.
    Der Magister stellte leise fest: »Dieser Mönch, zu welchem Orden er sich auch immer zählen mag, argumentiert so glattzüngig wie alle Glaubensstreiter. Immerhin: Diesmal tut er’s für einen guten Zweck.«
    Jetzt begann die Ratte, die sich für einige Augenblicke ruhig verhalten hatte, abermals zu zappeln, wobei sie spitze Schmerzensschreie

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