Der Clan der Wölfe 1: Donnerherz (German Edition)
zerfetzen, sondern die Nacht über Wache halten. Kein Raubtier sollte in ihre Nähe kommen, so wie bei Lochinvyrr , dem Ritual, das die Wölfe der Hinterlande abhielten, wenn ein Beutetier zur Strecke gebracht war und starb. Es war ein Zeichen der Achtung, der Anerkennung, dass das Leben, das sie genommen hatten, ein würdiges war. Obwohl Morag diese Grizzlybärin nicht getötet hatte, hielt sie es für ihre Pflicht, ihr Respekt zu zollen und anzuerkennen, dass sie ein würdiges Geschöpf war, denn sie hatte einen Wolfswelpen – ihr eigenes Junges – aufgezogen. Die Lochin dieser prachtvollen Bärin würde den Sternenpfad zu ihrer eigenen Seelenhöhle besteigen. Es war das Mindeste, was sie für die Bärin tun konnte.
Etwas Schreckliches musste Donnerherz zugestoßen sein. Zehn Tage waren vergangen, seit die Erde gebebt und sich der gefrorene Wasserfall aus seinem Eispanzer befreit hatte. Die Landschaft hatte sich völlig verändert. Riesige Spalten klafften im Schneefeld und gewaltige Felsblöcke hatten sich aufgetürmt. Einige Gräben waren so tief, wie die Berge hoch waren. Am Tag nach dem Erdbeben hatte Faolan mit angesehen, wie ein riesiger Elch plötzlich verschwunden war. Dabei gab es ringsum weder Bäume noch Höhlen. Das Tier war wie vom Erdboden verschluckt. Neugierig hatte Faolan sich zu der Stelle vorgetastet, wo der Elch verschwunden war. Er folgte einer Linie – nicht mehr als eine Furche im Schnee –, die plötzlich weit aufklaffte. Genau an der Stelle, an der gerade noch der Elch gestanden hatte. Das Tier war einfach hineingefallen. Faolan hörte es tief unten in der Erde blöken. Abrupt blieb er stehen. Er steckte mitten in einer Todesfalle. Um ihn herum erstreckte sich ein ganzes Labyrinth aus diesen schneeverhüllten Nähten, unter denen sich tiefe Spalten verbargen. War Donnerherz in eine davon gestürzt und allein am Grund einer eisigen Spalte gestorben? Faolan schauderte bei dieser Vorstellung.
Aber noch schlimmer als Donnerherz’ Tod war ein anderer Gedanke für ihn: Verlassensein . War es möglich, dass die Bärin ihn verlassen hatte? Faolan hatte zwar hin und wieder mit Donnerherz über die Nacht geredet, in der sie ihn aus dem Fluss gezogen hatte, aber an diesem Punkt war ihr Gespräch immer abgebrochen. Er hatte seine Milchgeberin nie gefragt, warum er ausgesetzt worden war – warum man ihn ertrinken lassen wollte. Die Vorstellung, dass seine Wolfsmutter ihm das angetan hatte, war einfach zu schrecklich. Deshalb hatte er den Gedanken nie zugelassen.
Stattdessen hatte er sich eingeredet, dass es ein schrecklicher Unfall gewesen sein müsse, der zum Glück gut ausgegangen war. Er war nicht verlassen, sondern gefunden worden. Von Donnerherz.
Doch jetzt überfluteten ihn die Fragen, die er so sorgfältig ausgeklammert hatte. War er damals als winziges Neugeborenes ausgesetzt worden, weil er sterben sollte? Hatte Donnerherz ihn verlassen, weil er nicht von ihrer Art war? Das hässliche Wort zuckte ihm durch den Kopf, durchbohrte ihn wie ein Messer. Aber zugleich rief es eine Erinnerung in ihm wach.
Die Erinnerung an einen geheimnisvollen Ort: die Frostlande. Donnerherz hatte vom Geschmack der Rentiere aus den Frostlanden gesprochen, der im Frühling am besten war. Und dass sie dort früher einen Bau gehabt hatte. Doch als Faolan vorgeschlagen hatte, eines Tages mit ihr dorthin zu gehen, hatte sie geantwortet: „Vielleicht. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es gut ist für deine Art.“
Ja, natürlich! , dachte Faolan. Dorthin wird sie gegangen sein! Donnerherz hatte ihn nicht verlassen. Sie war fortgegangen, um Rentiere zu jagen. Und sie würde ihm Fleisch mitbringen, wenn sie wiederkam.
Vorsichtig bahnte er sich seinen Weg durch das Labyrinth der Schneerillen zum Winterbau zurück. Aber als die Bärin nach ein paar Tagen immer noch nicht zurückgekehrt war und die Jagd in dem rissigen Schneefeld immer gefährlicher wurde, brach Faolan nach Norden auf – in die Frostlande, um Donnerherz zu suchen. Es war ihm egal, ob dieses Land gut für Wölfe war oder nicht. Er wollte nur bei seiner Bärenmutter sein. Und er wusste, wie er dort hinkommen würde. Er brauchte nur der letzten Klaue am Fuß des Sternbilds des Großen Bären zu folgen, die zum Nordstern zeigte. „Und dazwischen liegen die Frostlande.“ Das waren Donnerherz’ Worte gewesen.
Es war ein weiter Weg, aber davon ließ Faolan sich nicht aufhalten. Unterwegs suchte er sich zeitweilige Schlafplätze, die jedoch
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