Der Clan der Wölfe 1: Donnerherz (German Edition)
wie die kühnen Glutsammlerinnen am Himmel flogen. Diese Schattengestalten waren gefährliche, verräterische Eulen, das spürte Faolan. Und noch etwas bedrückte ihn: Er fand keinerlei Hinweis auf die Bedeutung des geheimnisvollen Spiralmusters. Merkwürdig. Das Muster tauchte überall in der Höhle auf, immer über dem Kopf eines Tiers. Manchmal war es ein Wolf, manchmal eine Eule oder sogar ein Bär, ein Fuchs oder ein Hase.
Vor lauter Grübeln war Faolan bald so erschöpft, dass er in dem runden Raum, in dem sich die Geschichten der Wölfe und Eulen vermischten, in einen tiefen Schlaf fiel.
Faolan schlief und träumte von einem Geruch, der sich in die Bilder einschlich, die er in der Höhle gesehen hatte. Der Geruch hatte etwas Fließendes wie der Silberstrom, den die laufenden Wölfe bildeten. Aber je stärker der Geruch wurde, desto klarer erkannte Faolan, dass er nichts mit den Wölfen auf der Höhlenwand zu tun hatte. Er spürte etwas Weiches um sich herum, zappelnde, kleine Körper, die miteinander balgten und sich nach dem warmen Milchgeruch drängten. Milch! Milch! , hieß das Zauberwort. Sofort wurde wild geschubst und gedrängelt. Alle schnappten nach einer Zitze in dem engen, dunklen Raum, der so wunderbar warm und still war. Faolan konnte in seinem Traum weder sehen noch hören. Nur riechen und fühlen konnte er. Und als er endlich eine der heiß umkämpften Zitzen ergatterte, spürte er noch etwas: einen Herzschlag. Nicht das gewaltige Hämmern eines Bärenherzens, sondern einen leiseren, schnelleren Rhythmus. Immer enger drängte er sich an das leichte Pochen und die Milch. Diese Milchgeberin war ganz anders als Donnerherz. Plötzlich spürte er einen kalten Luftzug. Etwas zerrte an ihm, riss ihn von der Zitze weg und aus dem Knäuel der zappelnden kleinen Körper heraus. Dann wurde es kalt. Er baumelte in der Luft und wurde von einer Kreatur ohne jeden Geruch davongetragen, weg von der Wärme, weg von seiner ersten Milch.
Mit lautem Schreckensgeheul fuhr er aus dem Traum hoch und stand auf. Er zitterte am ganzen Körper. Vorsichtig schnüffelte er. Kein Milchgeruch hing im Raum. Aber es war doch so wirklich gewesen! So lebendig!
Donnerherz hatte die Nacht, in der sie ihn gefunden hatte, fast nie erwähnt und auch nicht von einer Wolfsmutter gesprochen. Trotzdem wusste Faolan, dass er von einer Wölfin geboren sein musste, weil er doch so anders aussah als die Grizzlybärin. Aber tief in seinem Inneren hatte er nie wirklich daran geglaubt, jedenfalls nicht bis zu diesem Moment. Kann man denn zwei Mütter haben?, fragte er sich. Eine, von der man geboren, und eine, von der man aufgezogen wurde? Der Geruch der ersten Mutter aus seinem Traum hing ihm noch in der Nase.
Er durfte nicht länger in der Höhle bleiben, das wusste er. Die Höhle war „vor der Zeit“. Er aber musste in seine eigene Zeit zurück, in sein eigenes Land. Faolan fasste einen Entschluss: Er würde die Grenze zu den Hinterlanden überschreiten und dem Fluss folgen, auf der Suche nach seiner ersten Mutter und den kleinen Fellknäueln, die sich zappelnd um ihn gedrängt hatten. Warum war nur er von seiner ersten Mutter weggerissen worden? Wie vom Blitz getroffen blieb er stehen. Er starrte auf die gespreizte Pfote hinunter, hob sie hoch und verbog den Körper, bis er den Blick auf das Spiralmuster an seinem Fußpolster richten konnte. Das war der Grund dafür!
Seltsamerweise schmerzte ihn der Gedanke nicht. Stattdessen breitete sich ein tiefer Frieden in ihm aus. Das Wort „malcadh“ – „verflucht“ – kannte er nicht. Und er fühlte sich weder verflucht noch gesegnet. Eine Ahnung stieg in ihm auf: Er war Teil von etwas Größerem, einem größeren Muster, einem größeren Plan, einer endlos kreisenden Harmonie.
Es wurde Nacht. Als die Dunkelheit sich über ihn senkte, hielt er die Pfote zum Neumond hoch, der gerade aufging. Eine niedrige Wolke huschte zu beiden Seiten der silbernen Sichel hervor wie ein großer, leuchtender Vogel, der am Horizont schwebte.
Die Sterne begannen ihren majestätischen Aufstieg am Nachthimmel. Stumm schaute Faolan zu. Die Bewegung der Sterne erschien ihm wie das geschmeidige Strömen der Wölfe. Auch die Sterne bewegten sich nicht einzeln, nicht getrennt voneinander, sondern in vollkommener Übereinstimmung. Sie waren ebenfalls Teil von etwas Größerem. Selbst der Himmel schien sich um die Erde zu drehen, die vielleicht auch nur ein Stern war, ein Stern, der sich seinerseits drehte, ein
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