Der Clan der Wölfe 1: Donnerherz (German Edition)
winziger Teil in einem großen, fließenden Ganzen. Immer im Kreis herum wie die Linien auf meiner Pfote. Ich bin Teil eines endlosen Kreislaufs.
Tagelang war Faolan schon gewandert. Der Mond, der als dünne Sichel am Himmel gestanden hatte, als er aus der Höhle getreten war, war zu einer gewaltigen Silberkugel angeschwollen. Andere Wölfe waren ihm in dieser Zeit nicht begegnet. Er hatte nicht mal ein Heulen gehört. Wenn es am Tag zu heiß wurde, legte er sich an einem kühlen Felsen am Fluss nieder. Am Spätnachmittag ging er ins Wasser und fischte. Doch allmählich sehnte er sich nach einer richtigen Fleischmahlzeit. Der Wald war lichter geworden und eines Tages folgte er einem Pfad am Steilufer hinauf zu einer breiten Ebene. Es war die Stunde der Abenddämmerung. Ein tiefblaues Glühen erfüllte nach und nach die Luft. Plötzlich schnellten Faolans Ohren nach vorn. Ein seltsames Schnappen, das er im Wind aufgefangen hatte, ließ ihn aufhorchen. Er kannte dieses Geräusch und er wusste, was es bedeutete: Rentiere! Die Sehnen in ihren Beinmuskeln schnappten beim Gehen. Die großen Tiere waren auf dem Weg in ihre Kalbgründe.
Faolans Magensäfte schossen auf. Er schmeckte bereits das Blut. Aber er hatte weder die Bärin an seiner Seite, die ihm immer bei der Jagd geholfen hatte, noch gab es einen Engpass in der Nähe, in den er ein Rentier hätte treiben können, bis es hoffnungslos in der Falle saß. Diese Jagdstrategie nützte ihm hier gar nichts. Und wenn schon. Er hatte schließlich schon einmal einen Puma erlegt. Der Puma war allerdings allein gewesen. Die Rentiere waren in der Herde unterwegs. Also musste er ein schwaches oder krankes Tier aussondern und dann zur Strecke bringen. Im Geist kehrte er in die Höhle zurück – zu dem prachtvollen Strom von Wölfen, die lautlos durch die Landschaft glitten. Wölfe, die zielstrebig und einmütig zusammenarbeiteten. Ein Schwall von Gerüchen schlug ihm entgegen. Er würde es auch allein schaffen.
Entschlossen folgte er dem Geruch und hielt sich dabei sorgfältig windabwärts. Ein fernes Grollen stieg aus dem Boden auf, der spürbar zu beben begann. Immer stärker wurde das Grollen und bald darauf brach die Herde hinter einem Felsvorsprung hervor. Die Rentiere strebten zur Mitte der Ebene, die in ein flaches Tal abfiel. Das bot Faolan gewisse Vorteile. Er konnte sich oberhalb der Herde und weiterhin windabwärts halten. So hatte er einen guten Überblick und konnte sich das schwächste Tier aus der Herde herauspicken. Faolan war schlanker und schneller als noch vor wenigen Monden, denn er verlor bereits sein Winterunterfell. Rasch kletterte er auf einen Felskamm, lief den schmalen Grat entlang und beobachtete den Lauf der Herde. Zwei Raben kreisten über ihm und warteten darauf, dass er die Herde angriff. Faolan ärgerte sich. Die krächzenden Vögel würden ihn noch verraten. Doch die Rentiere zogen unbeirrt weiter, blindlings, unermüdlich, in einem stetigen Marsch, der so unverrückbar war wie der Lauf eines Flusses.
Am Rand der Herde erspähte Faolan jetzt eine ältere Kuh, der es sichtlich schwerfiel, mit der Herde Schritt zu halten. Das war seine Beute. Lautlos schlich er den Hang hinunter. Der Wind änderte plötzlich die Richtung, wenn auch nur ganz leicht. Das Schnappen der Rentiersehnen beschleunigte sich, die Tiere steigerten ihr Tempo. Sie riechen mich, dachte Faolan. Er sah, wie die alte Rentierkuh sich näher zur Mitte der Herde schob, aber sofort wieder an den Rand gedrängt wurde. Faolan lag noch ein gutes Stück zurück, während die Herde ihre Geschwindigkeit mehr als verdoppelt hatte. Ich muss ein stetiges Schritttempo einhalten. Und ich muss so tun, als wäre ich nicht allein.
Gleichmäßig lief er dahin und behielt dabei die Kuh im Auge. Instinktiv wusste er, dass in einem Byrrgis die Weibchen am schnellsten waren und deshalb an der Spitze des Rudels liefen. Er musste die Geschwindigkeit der Rentiere sorgfältig abschätzen und zugleich seine eigenen Kräfte schonen.
Als die Herde eine leichte Anhöhe hinaufzog, blieb die Kuh zurück. Sie konnte keinen Hang mehr bewältigen. Abrupt machte sie kehrt, beschleunigte ihre Schritte wieder und lief in die andere Richtung weiter. Faolan schwenkte sofort herum und folgte ihr. Das ebene Gelände verlieh der Kuh neue Kräfte. Sie erreichte eine beachtliche Geschwindigkeit, aber Faolan war ihr so dicht auf den Fersen, dass er ihren keuchenden Atem hörte. Dieses Tempo konnte sie nicht ewig
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