Der Clan der Wölfe 1: Donnerherz (German Edition)
durchhalten.
Oder doch?, fragte er sich nach einer Weile, als sie bereits ein großes Stück zurückgelegt hatten. Die Sterne waren inzwischen aufgegangen und an der anderen Seite der Himmelskuppel wieder hinabgesunken. Der Mond stand am fernen Horizont. Aber ich bin nicht allein , dachte er und rief sich die fließende Linie der Wölfe in Erinnerung. Jeder Wolf erfüllte eine bestimmte Rolle in der Laufordnung, ob beim Jagen oder Reisen. Faolan dachte daran, wie er dicht an der Felswand gestanden und das Bild stundenlang betrachtet hatte, bis er sich tatsächlich als Teil dieses Wolfsstroms fühlte. Fast konnte er den Druck der zahllosen geschmeidigen Leiber fühlen, die ihn umdrängten, um dann wieder einen langen, schnellen Strom zu bilden, während sie sich lautlos miteinander verständigten, in diesem Geister- Byrrgis . Einer für alle, alle für einen!
Und jetzt? Die Rentierkuh sollte glauben, dass er aufgegeben hatte. Aufmerksam suchte Faolan mit den Augen die Landschaft ab. Vor ihm lag eine Senke und dahinter ein kleiner Hügel. Wenn die Kuh sich täuschen ließ, konnte er sich von der anderen Seite anpirschen und sie auf die Anhöhe zutreiben.
Er keuchte hörbar, stieß eine Reihe von kurzen, atemlosen Schnaufern aus und heulte kurz auf. Dann machte er kehrt. Eine spannungsgeladene Stille erfüllte die Nacht. Das Schnappen der Sehnen hörte auf. Langsam, fast tänzelnd drehte Faolan sich um. Er spürte, wie die Kuh ihn beobachtete. Rasch verschwand er in der Senke und umrundete einen niedrigen Felsvorsprung. Die Kuh war langsamer geworden. Wenn er es schaffte, sie die Anhöhe hinaufzudrängen …
Faolan handelte schnell. Er durfte ihr keine Zeit lassen, neue Kräfte zu sammeln. Blitzartig schoss er hinter dem Felsen hervor, den er gerade umrundet hatte, und jagte sie in einem gewaltigen Spurt die Anhöhe hinauf. Kaum war die Kuh oben, stürzte er sich mit einem einzigen großen Satz auf sie. Er schlug die Vorderpfoten in ihre Hüfte, zog sich strampelnd hoch und packte sie an der Kehle. Mit zurückgezogenen Lefzen hieb er die Zähne in ihren Hals, um ihr die Luftröhre zu zerquetschen. Die Kuh sollte sterben, aber nicht zu schnell. Erneut überwältigte ihn der Drang, ihre Stärke und Ausdauer anzuerkennen, wie er es bei dem Puma gemacht hatte. Die Rentierkuh sollte wissen, dass er sie achtete und für würdig hielt. Der Instinkt des Lochinvyrr war so alt wie die Geschichte der Wölfe selbst. Faolan konnte nicht anders – er musste der sterbenden Kuh in die Augen blicken, ihr zeigen, dass er ihr Leben wertschätzte, es als Geschenk an ihn betrachtete. Nur dann war das Fleisch morrin , geheiligt, und das Rentier für einen guten Zweck gestorben. Von all dem wusste Faolan natürlich nichts – ihn leitete nur ein uralter Instinkt.
In den Augen der sterbenden Rentierkuh flackerte ein Licht auf, als sie Faolan anblickte. Er hörte das letzte, qualvolle Rasseln in ihrer zerquetschten Luftröhre. Ich habe ein langes Leben geführt, ein gutes Leben. Ich habe gekalbt und bin mit der Herde gelaufen. Ich bin bereit zu gehen. Meine Zeit ist vorbei. Einen Augenblick schien es, als nickten die beiden Tiere einander zu, dann starb das Rentier.
Die Raben kreisten schon über ihnen, noch ehe das Rentier seinen letzten Atemzug getan hatte. Zorn stieg in Faolan auf. Er knurrte nicht aus Hunger oder Selbstsucht, als zwei Rabenpaare sich auf einen Felsen in der Nähe des Kadavers setzten. Auch nicht, weil diese Raben dreist von dem Fleisch schmarotzen wollten, das er sich hart verdient hatte. Nein, Faolan konnte den Gedanken nicht ertragen, dass diese lärmenden Vögel mit ihrem heiseren Kra-Kra-Geschrei im Fleisch dieses edlen Tieres herumstocherten. Sein Nackenfell sträubte sich, wenn er nur daran dachte. Auch wenn Faolan seinen Hunger reichlich stillte, bliebe noch Fleisch übrig, aber die Raben machten ihn krank mit ihrer Gier. Er musste den Kadaver an einen Ort bringen, wo er vor den Aasvögeln in Sicherheit war.
Und so schleifte er das Rentier an den Geweihstangen über die flache, baumlose Ebene. Die Raben folgten ihm. Sobald er einmal anhielt oder ausruhte, ließen sie sich in der Nähe nieder. Aber Faolan war ein unermüdlicher Wächter. Er fletschte die Zähne und zeigte seine langen Fänge, von denen die Vögel gehofft hatten, dass sie die zähe Haut des Rentiers zerfetzen und ihnen so die Arbeit erleichtern würden. Faolans Verhalten verwirrte sie. Normalerweise überließen Wölfe die Überreste den
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