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Der Clown ohne Ort

Der Clown ohne Ort

Titel: Der Clown ohne Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Martini
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Glücks. Endlich glücklich sein, keine Angst vor dem Tod haben, verlier deine Hoffnung, werde eins mit der Welt. Wie? Es bleiben Fragen? Wie? Wer bist du, Mensch? Was träumst du, Mensch? Trivialitäten versenken die Lust auf Wahrscheinlichkeiten? Suche nach Gewissheit, Wahrheit, flüchtigem Glück, Hoffnung vielleicht? Wie? Es hilft nichts? Da ist nichts mehr? Sie sind tot? Wir haben die Schweine getötet? Wir? Wir Realisten? Ich aber brauche keine Hoffnung mehr, ich bin doch die erfüllte, bin Spiel und Ernst in Leben und Tod!
    Als Frau Leisten um sechs Uhr aufwacht, spürt sie einen tiefen Schmerz im Nacken, der sich über ihr Schulterblatt bis zum Ansatz ihres Hinterns zieht. Sie hat schlecht geschlafen und noch schlechter von ihrem Bruder geträumt. Einer der weniger guten Tage wieder. Sie häuften sich in letzter Zeit. Hätte er gegen diesen Fantasten nur die gleichen Antipathien wie gegen den Pfarrer gehegt, hätte er – hätte. Komisch, sie hatte sich diesen Konjunktiv schon Anfang der fünfziger Jahre abgewöhnt und nun, da ihr Leben sich – diese verflixte Verspannung, sie wird wohl doch zum Arzt gehen müssen, der ihr bloß wieder eilig eine Salbe verschreiben wird, statt mit ihr zu sprechen.
    Sie frühstückt. Und nun, da ihr Leben sich dem Ende zuneigt, verfällt sie wieder diesem Jugendtheater, diesem kindischen Laster, an Schuld und Verdienst zu glauben. Nach dem schlichten Mahl setzt sie sich ins Wohnzimmer vor den Fernseher und sieht sich ihre Lieblingssendung an: Reich und schön .
    Heute hilft es nur bedingt gegen die Erinnerungsfetzen: der blutjunge Soldat, sein schmutziger, stinkender Körper, die harten, rissigen Bauernhände, sein weiches Gesicht, das sie blutig kratzt, der Schmerz, der Flaum, die Sprache, die sie nicht versteht, die schmutzig grüne, raue Wolluniform, die Waffe, der heiße Sommertag, die alles verbrennende Sonne, die Ernte, die Ernte … der endlose, tiefblaue Himmel, der in Tränen verquillt, das konturlose Milchgesicht, juckendes Gras, ihr trockener Mund, der Kloß im Hals, im Kopf, das Würgen, die Unfähigkeit zu schreien, es hätte nichts gebracht. Das kriechende Grauen, das vernichtende Gefühl zu ersticken, erstickt zu sein, die Todesangst, die sie steif wie ein Brett werden lässt, der stechende Schmerz.
    Stricken war zu ihrer Lieblingsbeschäftigung geworden. Stricken und Gartenarbeit. Ora et labora. Bete und arbeite, so stand es in der kargen Dorfkirche geschrieben, bete und arbeite, sie hatte nur noch gearbeitet.
    Sie nickt ein. Sie träumt von Spanferkeln, die auf rosengeschmückten Schaukeln im Himmel schwingen. Verwirrt schreckt sie am frühen Nachmittag auf, als eines der Schweine mit ihr zu sprechen beginnt.
    Sie geht ins Schlafzimmer, öffnet den Schrank und greift wahllos in den Bastkorb, in dem sie ihre Wolle aufbewahrt. Sie hält ein schmutzig grünes Knäuel in der Hand. Als sie es sieht, lässt sie es erschrocken fallen. Ihr Atem stockt. Ihre Linke zittert. Sie atmet tief ein, schließt die Augen, atmet aus, öffnet die Augen wieder, Tage wie dieser, denkt sie, beugt sich leicht vor und wirft einen kurzen Blick in die Tüte. Sie greift sich das grüne Knäuel und geht zurück ins Wohnzimmer, ihrem Enkel eine Mütze stricken.
    Der sitzt auf einer Parkbank in Bayreuth, mit Blick auf die Villa Wahnfried, zündet sich eine Tüte an und kritzelt wie gewöhnlich ein paar Zeilen in sein Notizbuch. Am Tag zuvor hatte er sich die Generalprobe des Tannhäuser im Festspielhaus angesehen. Er war schon nach dem ersten Akt nach Hause gegangen. Wagner war nicht ganz seins. Die Eintrittskarte hatte er einer hysterisch Telefonierenden geschenkt, die wie vom Teufel gefickt »Ich habe eine Karte! Ich habe eine Karte!! Ich habe eine Karte!!!« in ihr Mobiltelefon schrie, ohne auch nur ein einziges Mal Danke zu sagen.
    Er hört Gil Scott-Heron. Sein Blick fällt auf die Villa der Freimaurerloge, die zwischen Villa Wahnfried und dem Stadtschloss steht. Er grinst müde. Es ging um seine Würde als frei Denkender. Alles Motherfucker.
    Die Dachterrasse im Raval. An der Außenwand des Schlafzimmers führt eine schmale, stark verwitterte Treppe zu der leerstehenden Wohnung darüber. Am Geländer rankt sich eine blaublütige Kletterpflanze empor. Neben das vergitterte Schlafzimmerfenster hat er sich einen roten Holztisch und zwei blaue Stühle gestellt, darüber ein verwaschenes, altrosanes Baumwolltuch gespannt. Hier sitzt er jeden Tag von etwa neun bis zwölf, betrachtet die

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