Der Club der Teufelinnen
entfliehen. Sie ertrug es nicht, allein zu sein und ungeliebt. Seit Beginn der Trennung hatte sie sich etwas vorgemacht. Es würde nur für einige Zeit sein, nicht für immer. Das hatte sie gehofft. Die Examensfeier und die Nacht mit Aaron hatten sie in ihren Hoffnungen bestärkt. Aber sie war eine Närrin gewesen.
Geh hinaus an die frische Luft, befahl sie sich. Doch die Hitze auf der Straße war wie ein Schlag, verwirrte sie nur noch mehr. Eine Fensterfront auf der 84. Straße, ihr Spiegelbild: Jemand, den ich einmal gekannt habe, dachte sie. Sie blieb stehen und betrachtete sich. Dunkelgrünes Polohemd, beiger Rock, flache Schuhe – so hatte sie sich in ihren Collegetagen angezogen.
Sie blickte sich um und erkannte das massive Bauwerk von Sankt Ignatius von Loyola auf der anderen Seite der Park Avenue. Als Schulmädchen waren sie von den Nonnen immer dorthin zur Sonntagsvesper geleitet worden. Annie hatte diese Stunden geliebt. Sie wollte hineingehen, eine Kerze für Cynthia anzünden und für Sylvie und für sich selbst. Ein Blick auf die Uhr: zehn vor vier.
Annie betrat die große, im romantischen Stil gebaute Kirche. Seit Jahren war sie nicht mehr zum Gottesdienst gegangen, abgesehen von den obligaten Hochzeiten und Begräbnissen. Sie saß auf einer der hinteren Bänke, und gab sich dem Gefühl der Zeitlosigkeit hin, das von dem schönen Mosaik an der Altarfront ausging. Nur ein paar ältere irische Damen waren anwesend, in ihren Rosenkranz vertieft. Wie wenig hatte sich doch geändert. Sie ließ ihre Gedanken zwischen Gebeten und Erinnerungen wandern. Erbarme dich Cynthias. Arme Cynthia. Hilf meiner Tochter Sylvie. Und Aaron. Aaron, dieser Name wurde zur Litanei. Bitte, lieber Gott, mach, daß er mich liebt. Laß dies als Gebet gelten.
Der Gottesdienst begann, und die Liturgie, der Weihrauch gaben ihr Frieden; Zeit und Raum bestanden nicht mehr für sie. Und dann, mit einem Mal, wie eine Antwort auf ihr Gebet, wußte sie, was sie zu tun hatte. Ich werde ihn anrufen! Ich war zu kalt. Ich werde ihm sagen, was ich empfinde. Vielleicht weiß er es nicht. Er muß es erfahren, und ich werde es ihm sagen. Ja, so würde es sein. Von ihrer Inspiration durchdrungen, beugte sie das Knie, flüsterte »Ich danke dir« und verließ eilig die Kirche.
An der Madison Avenue fand sie eine Telefonzelle. Natürlich, er wartet darauf, daß ich ihn anrufe. Er ist verunsichert. Er befürchtet, daß es so ist wie früher. Er weiß ja nicht, wie ich mich geändert habe. Wie anders alles sein wird, nachdem Sylvie nicht mehr da ist. Wieso habe ich bloß nicht früher daran gedacht?
Weder zitterte ihre Hand, als sie die Nummer des Carlyle wählte, noch ihre Stimme, als sie nach ihm fragte. Und wenn er nicht da wäre? Oder im Büro? Erst als sie seine Stimme vernahm, verspürte sie Panik. Er liebte sie doch, oder? Er hatte es gesagt.
»Aaron, hier ist Annie. Ich muß dich sehen.«
»Ist etwas passiert, Annie?«
»Nein, das nicht. Aber es ist sehr wichtig. Ich muß dir etwas sagen. Kann ich zu dir hinüberkommen?«
»Jetzt? Heute? Ist es wichtig?«
Sie wandte sich gegen das Widerstreben in seiner Stimme. »Jetzt gleich.« Sie blieb fest. Nachdem er eingewilligt hatte, hängte Annie ein und wischte ihre feuchten Hände an ihrem Rock ab. Pech, daß sie nicht gerade besonders gut angezogen war. Sie ging die paar Straßen an der Madison Avenue entlang zum Carlyle. Als sie dort eintraf, mußte sie zuerst ihren unruhigen Atem bezwingen.
Leise durchquerte sie die Lobby. Niemand hielt sie auf. Sie nahm den Lift. An Aarons Tür klingelte sie und wartete. Mein Gott, keiner öffnete. Sie klingelte erneut. Als Aaron die Tür endlich öffnete, stockte ihr der Atem.
»Ich habe dich nicht so schnell erwartet, Annie. Komm rein.«
Sie betrat das Wohnzimmer. »Ich wußte nicht, daß du gleich um die Ecke angerufen hast.«
Sie blickte sich in dem kleinen, aber eleganten Zimmer um. Wer bezahlte das wohl? fragte sie sich flüchtig. Wahrscheinlich seine Firma.
»Ich habe mit Sylvie gesprochen.« Aaron klang beinahe, als ob er sich verteidigte.
»Oh.«
»Ja, gestern habe ich mit ihr gesprochen. Sie sagt, die Schule gefällt ihr. Es war ein gutes Gespräch. Vielleicht ist das dort doch in Ordnung.« Er verstummte, es fiel ihm nichts mehr ein.
Annie ging hinüber zum Fenster, blickte hinaus. Paare spazierten auf der Madison Avenue. Dieser Anblick erschien ihr als ein Omen. Ja, die Menschen sollten als Paare leben. Aaron und sie würden wieder
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