Der Coup von Marseille
ist, wer kommt auf so eine Idee? Wer hätte dadurch einen Vorteil? Wer könnte ein Interesse daran haben? Niemand außer Wapping und Konsorten!« Philippe stand auf, um eine weitere Runde Kaffee aufzubrühen. »Folglich muss er der Drahtzieher sein.« Er blickte Sam an und zuckte die Achseln. »Das herauszufinden war der leichte Teil. Jetzt sollten wir uns mal den Kopf darüber zerbrechen, wo er Elena gefangen halten könnte. Da er Marseille nicht besondern gut kennt, wird er sie wohl kaum in irgendeiner x-beliebigen Wohnung verstecken. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er Patrimonio nicht in ein derart krummes Ding eingeweiht hat. Dann wäre Patrimonio nämlich sein Komplize und hätte sich strafbar gemacht – viel zu riskant. Versetz dich einfach mal in Wappings Lage. Er muss ein Versteck für Elena finden, das absolut sicher, unauffällig und voll unter seiner Kontrolle ist. Was könnte das sein?«
»Sein Boot?«
»Genau. Die Floating Pound, wo keine Gefahr besteht, dass Unbefugte etwas sehen, was sie nicht sehen sollen. Und falls es ein Problem gibt, sticht er einfach in See. Außerdem hat er ja noch den Hubschrauber. Nehmen wir also an, dass wir den Kidnapper kennen und wissen, wo er Elena gefangen hält, dann kommen wir jetzt zum wirklich kniffligen Teil. Wir müssen uns irgendwie Zugang zum Boot verschaffen.«
»Moment mal, Philippe. Ist das nicht Sache der Polizei? Warum bringen wir sie nicht dazu, das Boot zu stürmen?«
Philippe schüttelte langsam den Kopf und holte tief Luft. »Hier unten im Süden machen wir nur ungerne Front gegen gut betuchte Ausländer. Das ist schlecht fürs Geschäft. Marseille hat ohnehin schon genug Ärger mit seinem Ruf. Aber wichtiger, wesentlich wichtiger ist, dass wir keinerlei Beweise haben, nicht einmal Indizien – keine Bandaufnahme des Anrufs, keine Zeugen, keine sachdienlichen Hinweise. Nur unsere kleine Theorie, unser Wort, das ist alles. Nichts, was vor Gericht hieb- und stichfest wäre. Und ohne eine solche Handhabe würde kein Bulle an Bord einer Privatjacht gehen.«
»Hast du nicht einen wirklich verlässlichen Kontaktmann bei der Polizei, mit dem wir reden können? Einen Polizei inspektor?«
»Andreis? Der befindet sich im Ruhestand – hat sich nach Korsika abgesetzt und stellt Käse her.«
Sam hatte sich den ganzen Morgen verzweifelt, besorgt und frustriert gefühlt. Nun wurde er wütend. Der Gedanke, dass Elena als Druckmittel bei Verhandlungen benutzt wurde, weckte in ihm das Bedürfnis, zur Tat zu schreiten, vorzugsweise Wapping an die Gurgel zu gehen. Und mit der Wut überkam ihn ein ungeahnter Energieschub, der jede Erinnerung an die schlaflose Nacht auslöschte.
»Okay, wir müssen also das Boot inspizieren. Wenn wir nicht mit der Polizei rechnen können, müssen wir uns etwas ausdenken, um der Suche einen offiziellen Anstrich zu verleihen. Sonst lassen sie uns nicht an Bord.«
Sams Handy klingelte. Er griff ungeschickt danach – kein Wunder, denn die Nerven lagen blank. Es war Reboul, der auf gute Nachrichten hoffte. Er war entsetzt, als er vom Anruf des Entführers erfuhr. »Sam, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Es ist alles meine Schuld, ich habe Sie in diesen Schlamassel gebracht. Ich möchte nur, dass Sie wissen, Sie können hundertprozentig mit mir rechnen – ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um zu helfen. Egal was. Was haben Sie jetzt vor?«
»Ich bin noch dabei, einen Schlachtplan auszuarbeiten. Ich sage Ihnen Bescheid, wenn ich weiß, wie es weitergehen soll.«
Während er telefonierte, hatte sich eine vom Schlaf zerzauste Mimi ihnen zugesellt. Sie ging zu Sam und umarmte ihn. »Immer noch nichts?«
Sam schüttelte den Kopf und beugte sich hinunter, um sie auf die Stirn zu küssen. Sie war glühend heiß. »Mimi, alles in Ordnung mit dir? Du glühst; hast du Fieber?«
»Oh, nichts Ernstes. Im Moment geht mal wieder irgendein Virus um. Mir geht es gut.«
Es gibt Zeiten, in denen der menschliche Verstand unwill kürlich die seltsamsten Verbindungen herstellt, und Mimis Virus erinnerte Sam an eine äußerst ungesunde Periode in der Geschichte der Stadt. »Ihr zwei kennt euch doch besser aus als ich, aber wurde Marseille im achtzehnten Jahrhundert nicht von einer riesigen Pestwelle heimgesucht? Ich meine etwas darüber gelesen zu haben.«
Philippe sah ihn verdutzt an. »Das war 1720. Als man sich noch nicht die Mühe machte, die einlaufenden Schiffe unter Quarantäne zu stellen. Tausende Einwohner
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