Der Daleth-Effekt
dachte daran, daß sie ja keinen Schlüssel hatte. Sie hob die Faust, doch ehe sie anklopfen konnte, öffnete ihr Skou die Tür.
»Unser Motto ist die Wachsamkeit«, sagte er lächelnd, ließ sie eintreten und verriegelte die Tür hinter ihr.
Sie nickte und ging wortlos an ihm vorbei, ohne ihn anzusehen. Sie wollte jetzt nicht mit ihm sprechen, wollte überhaupt niemanden sehen. Sie ging hastig ins Badezimmer. Sie war erhitzt, von der Sonne wie von der Erregung, und sie war erschöpft von den Gefühlen, die sie überwältigt hatten. Es war alles so schrecklich. Schluchzend drehte sie den Wasserhahn auf, hielt ihre Arme unter den kalten Strahl und benetzte ihr heißes Gesicht.
Sie fuhr sich mit den Fingern durch das Haar, sie konnte sich nicht im Spiegel ansehen.
Ihre Kehle war wie zugeschnürt, und sie hatte das Gefühl, jeden Augenblick in Tränen ausbrechen zu müssen, das durfte sie auf keinen Fall.
Sie wandte sich hastig ab, um ihrem Spiegelbild zu entfliehen. Dabei fiel ihr Blick auf ein kleines Notizbuch, das auf dem Wäschekasten lag, und sie nahm es, weil es nicht dorthin gehörte. Während sie überlegte, was sie damit tun sollte, öffnete sie es automatisch und sah, daß die Seiten mit Berechnungen vollgeschrieben waren – dabei waren weitaus mehr seltsame Symbole als Zahlen zu sehen. Sie schloß es hastig und ging in ihr Zimmer, drückte die Tür zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen, das Notizbuch fest in der Hand.
Es gibt Augenblicke, in denen das Gefühl die Logik des Denkens ersetzt, und jetzt war ein solcher Augenblick gekommen. Baxter hatte sie in letzter Zeit kaum belästigt, aber sie dachte weniger an Baxter oder an Amerika und Dänemark – und auch nicht an Loyalität und Patriotismus. Sie dachte an Nils und an die Szene, deren Zeuge sie geworden war, und obwohl sie sich dessen nicht bewußt war, wollte sie ihn verletzen, wie er sie verletzt hatte.
Es war alles ganz einfach. Martha drehte den Schlüssel herum, ging zu ihrem Sekretär und nahm den Fotoapparat aus der Schublade. Sie hatte erst gestern einen neuen hochempfindlichen Farbfilm eingelegt, um einige Aufnahmen als Erinnerung an Nils’ Rückkehr und an die Ferien zu machen. Auf dem Teppich vor dem Bett leuchtete ein großer Sonnenfleck. Sie legte das Notizbuch auf den Boden und schlug die erste Seite auf. Dann setzte sie sich auf die Bettkante, beugte sich nach vorn und starrte durch den Sucher. Alles stimmte genau. Nur einen Meter Entfernung, näher durfte sie nicht herangehen, damit das Bild nicht unscharf wurde. Die Seiten zeichneten sich klar und deutlich ab, und die Kamera sorgte automatisch für die richtige Belichtung.
Klick.
Sie drehte den Film weiter, beugte sich vor, um die Seite umzuschlagen, und stützte die Ellenbogen auf ihre Knie.
Sie hatte noch zehn Bilder übrig, als sie mit der letzten Seite fertig war. Also machte sie auch Aufnahmen der Vorder- und Rückseite, denn sie wollte keinen Film verschwenden. Aber dann kam ihr der Widersinn ihres Tuns zu Bewußtsein, und sie schloß die Kamerahülle und legte sie wieder in die Schublade. Sie nahm das Notizbuch, öffnete die Tür und ging hinaus. Arnie kam ihr auf der Treppe entgegen.
»Martha«, sagte er und blinzelte in der Dunkelheit. »Ich bin plötzlich aufgewacht und habe mein Notizbuch vermißt …«
Sie wich erschrocken einen Schritt zurück, die Hand mit dem Notizbuch fest an sich gepreßt.
»Da ist es ja«, sagte er, deutete darauf und lächelte. »Wie nett, daß Sie es für mich in Sicherheit gebracht haben.«
»Ich wollte es eben auf Ihr Zimmer legen«, sagte sie mit einer Stimme, die ihr schrill und gekünstelt vorkam, aber er schien nichts zu merken. Sie reichte es ihm.
»Gott sei Dank«, sagte er. »Wenn Skou es irgendwo unbewacht gefunden hätte, würde er mich wahrscheinlich sofort zum Mond zurückschicken. Vielen Dank. Ich werde es jetzt in meinem Koffer einschließen, damit ich nicht noch einmal eine solche Dummheit mache. Es tut mir leid, daß ich einfach eingeschlafen bin. Ein unterhaltsamer Gast bin ich, nicht wahr? Aber ich fühle mich jetzt schon viel besser. Es war ein herrlicher Tag!«
Sie nickte langsam, als er in seinem Zimmer verschwand.
18.
Der große Jaguar fuhr an der Küste nordwärts und hielt sich genau an die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit. Nils steuerte lässig mit einer Hand, während er im Radio nach Musik suchte.
»Wir sind ein wenig spät dran«, sagte er. »Müssen wir unbedingt in Helsingør
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