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Der demokratische Terrorist

Der demokratische Terrorist

Titel: Der demokratische Terrorist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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hielte ich es doch für wünschenswert, daß Sie, Herr Hauptmann, und die Spezialeinsatztrupps Gelb und Blau einander kennen. Am Ende des Unternehmens dürften Sie sich ja mitten im Ziel befinden, nicht wahr, Herr Hauptmann? Da wäre es schon wünschenswert, Freund und Feind auseinanderhalten zu können, meinen Sie nicht auch?«
    Das war zweifellos ein schlagendes Argument. Aber Carl geriet immer mehr ins Zweifeln darüber, ob sich seine Vorstellungen von einem effektiven Einsatz mit dem zur Deckung bringen ließen, was hier vertreten wurde. Wie auch immer: Es waren Zukunftsphantasien, die Lichtjahre von der derzeitigen Realität entfernt waren.
    Es stand jedenfalls fest, daß Carl in der folgenden Woche an der praxisbezogenen Ausbildung der SET Gelb und Blau teilnehmen sollte. Nachmittags, wenn das Personal der GSG 9 entweder dienstfrei oder theoretischen Unterricht hatte (von Funktechnik bis hin zu lateinamerikanischer Stadtguerilla-Taktik, Psychologie und westdeutscher Terroristen-Ideologie), sollten sich Carl und Siegfried Maack einem theoretischen Vorhaben zuwenden, von dem der Oberst nichts wußte - das war eine Angelegenheit zwischen Carl und dem Verfassungsschutz.
    Damit war die Sitzung beendet.
    Ein Major trat ein, begrüßte Carl und nahm ihn und Maack zu einem ersten Rundgang mit. Erstes Ziel war die Garage mit einer ganzen Reihe weißer Mercedes-Limousinen, dem wichtigsten Fortbewegungsmittel der GSG 9; bei Einsätzen saßen fünf Mann in jedem Wagen des Typs 280 SE. Äußerlich waren die Fahrzeuge von Serienwagen kaum zu unterscheiden.
    Aber sie hatten Funktelefon mit eingebautem Abhörschutz und die Scheiben waren selbstverständlich aus kugelsicherem Glas.
    Der Major war ein kleiner, rundlicher, freundlicher Mann und Chef der zweiten Kampfgruppe, zu der auch Gelb und Blau gehörten. Er schien Carl wie selbstverständlich für einen Amerikaner zu halten. Sie gingen in die Kleiderkammer, in der Carl gegen Quittung einen Sack mit Kleidungsstücken und Ausrüstungsgegenständen erhielt, was ihm das Gefühl gab, ein frisch eingezogener Rekrut zu sein. Nach einigen weiteren Fluren betraten sie einen Turnsaal, in dem rund ein Dutzend Männer in Karate-Jacken aus grobem weißem Baumwollstoff Nahkampf-Übungen machten. Die Übungen wurden abgebrochen, und alle Beteiligten nahmen Haltung an, als die Besucher den Saal betraten.
    Der Major stellte »Hauptmann Charlie« vor, der beim morgendlichen Apell schon erwähnt worden sei und der einen eventuellen künftigen Einsatz der hier anwesenden Gruppen Gelb und Blau leiten und mindestens eine Woche als Gast der GSG 9 in St. Augustin bleiben werde. Dann gab der Major Befehl, mit den Übungen fortzufahren.
    Nach Carls Urteil handelte es sich um eine Nahkampfübung typisch polizeilichen Charakters. Der Ausbilder entwaffnete einen Messerstecher, und dieser mußte natürlich mit hocherhobener Waffe angestürzt kommen, damit alles klappte: Zunächst landete der Ausbilder einen Abwehrschlag, während er gleichzeitig aufschrie, um den Messerstecher abzulenken. Der Schlag traf das Handgelenk und hatte wie geplant zur Folge, daß das Messer zur Seite geschlagen wurde. Darauf nahm der Ausbilder den Angreifer in einen festen Armgriff und zwang ihn, sich um die eigene Achse zu drehen; dann wurde der Arm des Angreifers auf den Rücken gepreßt und die freie Hand um seinen Nacken gelegt. Damit war der Angreifer unschädlich gemacht. Unverletzt und kniend teilte er dann laut mit, er ergebe sich.
    Carl musterte vorsichtig die jungen Polizeibeamten. Sie waren von überdurchschnittlich kräftigem Körperbau und wirkten durchtrainiert. Ihr Durchschnittsalter schien um 25 Jahre zu liegen. Sie hatten kurzgeschnittenes Haar und machten ernste Gesichter. Sie versuchten so zu tun, als seien sie es gewohnt, Besuch zu haben, warfen Hauptmann Charlie aber trotzdem neugierige Seitenblicke zu.
    Dann passierte genau das, was sich Carl am allerwenigsten gewünscht hatte. Der Ausbilder, der soeben einen weiteren freiwilligen »Messerstecher« abgefertigt hatte, hielt das Messer jetzt Carl mit einer einladenden Handbewegung hin, was bei den Zuschauern offenkundiges Interesse und sogar so etwas wie Heiterkeit auslöste.
    Die Situation war peinlich. Diese Übung hatte mit der Wirklichkeit nur sehr wenig zu tun; Carl hatte fünf Jahre lang das genaue Gegenteil gelernt und gelehrt, daß man nämlich für den Nahkampf unbedingt alles vergessen muß, was man beim normalen Wehrdienst oder in der

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